Glück gehabt.

Ich berichtete von den vier Phasen.
An dieser Stelle möchte ich von meinem persönlichen Waterloo berichten.

Zur Vorgeschichte:
Ich habe zwei Einsätze gefahren, wo ich nichts machen musste. Keine Notarztindikation. Beim dritten Einsatz wurde ich auf der Anfahrt abbestellt. Ein öder Tag. Keine Medikamente gegeben, noch nicht mal einen Zugang gelegt.
Der vierte Einsatz:

Einsatz NEF SoSi Mehrfach SchniekesdorfamRandederStadt Schniekestraße 88 Dyspnoe, 45j.:

Beim Eintreffen des Notarztes (das bin ich!) läuft der Patient gerade im Morgenmantel (es ist halb zwei am Mittag) in den RTW. Der Patient und der Rettungsassistent berichten im Wechsel, dass der ca. 45-jährige Morgenmantelmann schon gestern so ein Pfeifen auf den Ohren gehabt habe und irgendwie sei ihm auch so schwindelig gewesen. Im Moment sei es wieder gut, ein bißchen Schwindel habe er noch, aber gerade sei ihm dann auch noch schlecht gewesen und dann habe er den Rettungsdienst angerufen. Der Morgenmantelmann hatte nämlich schon mal einen Herzinfarkt vor vielen Jahren und da war das so ähnlich.
Allergien gab es keine, die Vorgeschichte hatten wir, Medikamente nimmt er außer gelegentlich Viagra keine, das EKG war normal, der Blutdruck mit 185/110 mmHg deutlich erhöht. Keine fokal neurologischen Defizite, keine Dyspnoe, kein Brustschmerz, kein Hinweis auf ACS oder Lungenembolie.
Ich war auf der Schiene hypertensive Entgleisung und um im nun vierten Einsatz als Notarzt (hey!) endlich mal etwas tun zu können, habe ich einen Hauch Ebrantil gespritzt (kein Nitro, da Sildenafil in der Vormedikation). Einen Hauch, 10 mg, es war mir selbst etwas peinlich.

Der Patient wurde kaltschweißig. Die Frequenz fiel und fiel, ich war hellwach, liess den zweiten RA nach hinten kommen, Atropin, Herzfrequenz Patient bei 25/min, Narkosearzt bei 180/min, Akrinor, Reanimationsbereitschaft. Mir ist so dermaßen das Herz in die Hose gerutscht! Ich habe für den Morgenmantelmann gebetet, gehofft, dass er jetzt mal diese etwas übertriebene Simulation beendet.
Der Patient erholte sich. Beim Akrinor meinte er noch, ob das denn nicht jetzt so langsam mal genug Medikamente seien. Mir war das ganze sehr peinlich.
Wir sind mit Sondersignal in die Klinik gefahren (was ich sonst fast nie mache) und ich war froh, einen stabilen, subjektiv beschwerdefreien (!) Patienten abzuliefern.
Was ist schief gelaufen:
Ich habe wirklich viel über dieses Ereignis nachgedacht. Ich weiß nicht, ob es ohne das Ebrantil auch zu dem Ereignis gekommen wäre. Wahrscheinlich hatte der Patient eine ähnliche Episode zuhause, nur war eben zu dem Zeitpunkt kein Monitor dran und er fühlte sich nur etwas unwohl.

Worum es mir geht: ich hätte gar nicht unbedingt etwas spritzen müssen. Ich habe mich übertrieben sicher gefühlt, habe einfach mal so ein Medikament gespritzt obwohl es nicht unbedingt hätte sein müssen. Ich habe den Patienten unnötig in Gefahr gebracht, obwohl der hohe Blutdruck gar nicht so furchtbar schlimm war.
Es war dumm von mir so zu handeln und es hat mich demütig gemacht.
Ich bin vor einer Katastrophe bewahrt geblieben und habe trotzdem lange an der Geschichte arbeiten müssen.

Mein Fazit:
– Primum non nocere. No further harm. Nenne es wie Du willst: füge dem Patienten keinen weiteren Schaden hinzu.
– Versuche immer so zu handeln, dass Du es für Dich und den Patienten und die Angehörigen und Dein Gewissen auch im Rückblick rechtfertigen kannst
– Rufe Dir die Situationen des Nearly-Fail lebhaft ins Gewissen wenn alles so sicher und routiniert erscheint – das wird es nie sein!

Ich habe ein starkes Vertrauen darauf, dass da ganz oben jemand sitzt der Höher ist als all meine Vernunft und der auf mich und meine Patienten aufpasst und der unser Arzt ist. Dafür bin ich ihm sehr dankbar.

Die vier Phasen.

Ich habe Glück gehabt.
Man sagt, dass es im Leben eines Mediziners vier Phasen gibt:
Phase Eins: die berechtigte Unsicherheit

Der Medizinstudent hat viel gelesen, andere vieles machen sehen und kann eigentlich selber so richtig noch gar nichts außer Fragen stellen. Das weiß er, deshalb ist er vorsichtig, deshalb ist er unsicher.

Phase Zwei: die unberechtigten Sicherheit

Statistisch passieren die schlimmsten Fehler im dritten und vierten Ausbildungsjahr. Man fühlt sich groß und stark, hat so die eine oder andere Unwegbarkeit umschifft und denkt sich – na, was so ein Oberarzt kann, kann ICH schon lange. Die Unsicherheit der ersten Jahre ist verflogen, wurde ersetzt durch erfolgreiche Erlebnisse, gestärkt durch das Vertrauen in wachsende, eigene Fähigkeiten. Was noch fehlt ist z.B. der fundierte klinische Blick wie ihn Schwester Sabine (25 Dienstjahre auf der Intensiv) drauf hat. Oder die Ruhe eines Oberarztes bei der schwierigen Intubation wenn die Sättigungswerte sich der Raumtemperatur nähern. Und die Coolness den Tubus auch dann richtig zu versenken wenn alle hektisch werden. In dieser Phase passieren die meisten, wirklich schlimmen Fehler.

Phase Drei: die berechtigte Sicherheit

Oberarzt, seit 5 Jahren im gleichen Haus, mit jeder Schraube per Du. Katheter fallen dahin, wo sie hin sollen, außer bräsigen QM-Vorschriften und dem alljährlichen Rezertifizierungstrara bringt einen eigentlich so gar nichts mehr aus der Ruhe.

Phase Vier: die unberechtigte Unsicherheit

Schaffe ich den Wechsel in die Praxis? Kriege ich das noch hin mit der Umstellung? Soll ich den Posten als Leiter der Dingsbumsologie übernehmen? Bin ich dafür geeignet?
Die Antwort: Ja.

Ich befinde mich am Rande von Phase Zwei und hoffe, dass der Weg bis zur Phase Drei nicht mehr so weit ist.