Wann ist eine Intensivstation voll?

Woran ich mich seit März gewöhnt habe ist, dass viele Menschen mitreden möchten, die keine Ahnung aber dafür eine starke Meinung haben.
Aktuell erlebt man dies beim Thema der freien Intensivbetten. Da streiten niedergelassene HNO-Ärzte mit Betriebswirtschaftlern und weiteren Nicht-Klinikern.
Alle schauen auf das Intensivregister der DIVI und die Beteiligten werden nicht müde zu betonen, dass alles gut ist so lange wir noch freie Intensivbetten haben.

Dabei ist die Lage weit komplexer. Laut RKI werden in Deutschland 7% aller Patienten mit COVID-19 ins Krankenhaus aufgenommen. Nehmen wir Recklinghausen – 250 Neuinfektionen pro Woche bedeutet etwa 17 Patienten die pro Woche aufgenommen werden. Laut RKI werden ca. 17% der hospitalisierten COVID-Patienten beatmungspflichtig auf der Intensivstation. Das wären für den Kreis Recklinghausen etwa 3 Patienten. Das erscheint nicht viel. Problematisch ist, dass die Patienten im Durchschnitt 13,5 Tage auf der Intensivstation sind. Die liegen also noch da wenn die neuen kommen – und so weiter.

Aber wann ist eine Intensivstation eigentlich voll?
Man könnte ja denken – wenn es 20 Betten auf der Intensivstation gibt, dann ist diese mit Patient Nr. 20 voll. Weit gefehlt.
Auch auf einer Intensivstation unterscheiden sich die Patienten nämlich bezüglich der Schwere ihrer Erkrankung.
Es gibt Patienten die ohne Maschinen wie es sie nur auf einer Intensivstation gibt nicht überleben können. Das sind zum Beispiel Patienten mit einer schweren Lungenentzündung und gestörten Sauerstoffaufnahme die durch ein Beatmungsgerät beatmet werden müssen. Meist benötigen sie noch kreislaufstabilisierende Medikamente und starke Schmerzmittel, manchmal auch Schlafmittel für ein künstliches Koma. Nennen wir sie die roten. Patienten die ohne die Technik und Perfusoren auf der Intensivstation in kürzester Zeit tot wären.
Dann gibt es die orangen Patienten, die sind zwar nicht beatmet, aber benötigen zum Beispiel kreislaufunterstützende Medikamente. Diese Medikamente kann man nur geben wenn man gleichzeitig mit jedem Herzschlag den Blutdruck überwacht – auch das geht nur auf einer Intensivstation.
Dann gibt es die gelben Patienten. Bei uns liegen beispielsweise Patienten die nach einer Lungen-OP für die Operation zwar kurzzeitig an einer Herz-/Lungenmaschine angeschlossen wurden, jetzt aber wieder selbständig atmen können. Diese Patienten benötigen noch eine intensive Schmerztherapie, Atemtraining und Überwachung von Vitalparametern (Blutdruck, Atmung etc.). Diese Patienten benötigen weder ein Beatmungsgerät noch eine Dialyse, aber sie profitieren von der intensiven Betreuung und Überwachung einer Intensivstation.
Je mehr Neuaufnahmen zwingend auf die Intensivstation müssen, desto eher wird man diese gelben Patienten auf eine Normalstation verlegen müssen.

Nehmen wir an die Intensivstation ist voll, das Krankenhaus hat sich abgemeldet – für den Rettungsdienst kann diese Klinik nun nicht mehr angefahren werden.
Weit gefehlt wer sich mit seiner Intensivstation sicher fühlt. Manchmal kommt der Rettungsdienst nämlich doch und abweisen darf man einen Patienten nicht so einfach.
Viel häufiger kommt es aber bei Patienten die bereits im Krankenhaus zum Beispiel auf einer Normalstation liegen zu Komplikationen. Dann muss dieser Patient notfallmäßig beatmet werden (=roter Patient) und benötigt nun ebenfalls ganz dringend ein Bett auf der eigentlich vollen Intensivstation.
Nun muss ein freies Bett geschaffen werden und es beginnt die Suche nach dem Patienten der am wenigsten krank ist. Meist werden diese Patienten schon bei der Übergabe als potentielle Verlegungskandidaten markiert. Diese Patienten sind so krank, dass man sie eigentlich noch gerne auf der Intensivstation belassen möchte, aber eben zur Not verlegen kann, falls ein Bett für einen noch kränkeren Patienten benötigt wird. 
Es gehört zu den Herausforderungen der Leitung einer Intensivstation immer zwischen dem vorhandenen Angebot (an Betten) und der Nachfrage (durch Patienten die ein solches benötigen) zu vermitteln. Im Normallfall ist das auch kein Problem. Es gibt einen Graubereich in dem Patienten sowohl von der Intensivstation (besserer Pflegeschlüssel, mehr Behandlungsmöglichkeiten) als auch von der Normalstation (mehr Ruhe, Tag/Nacht-Rhythmus, weniger Risiko für multiresistente Erreger usw.) profitieren. Es gilt den richtigen Zeitpunkt für die Verlegung abzupassen.
Im normalen Klinikalltag funktioniert das sehr gut. Kritisch wird es wenn sich der Belegungsdruck für die Intensivstation durch immer neue Aufnahmen erhöht. Immer neue kritisch kranke Patienten die ein Intensivbett benötigen bedeutet, dass immer liberaler Patienten auf die Normalstation verlegt werden müssen die eigentlich noch nicht verlegungsfähig sind.
Gleichzeitig passiert etwas mit dem Arbeitsaufwand und der Betreuungsintensität der Patienten auf der Intensivstation. Immer weniger gelbe Patienten und immer mehr orange oder rote Patienten bedeutet eine enorme Zunahme der Arbeitsbelastung der Pflegekräfte und Ärzte auf der Intensivstation. Eine Pflegekraft kann im Frühdienst vielleicht zwei gelbe und einen orangenen Patienten versorgen. Zwei rote und ein oranger Patient sind schlicht zu viel für eine Pflegekraft. Man muss sich nur mal umhören und erfährt von Pflegekräften die vier oder fünf Patienten auf einer Intensivstation versorgen müssen. Alles geht – dank Wegfall der Pflegeuntergrenze! 
Diese Patienten müssen dann eben länger warten bis ihnen jemand den Schleim absaugt, oder bis jemand ihnen ein Schmerzmittel gibt oder die Beatmung anpasst. Die Qualität der Versorgung leidet darunter massiv, aber das ist eine politische Entscheidung und liegt nicht an der Unfähigkeit der betreuenden Pflegekräfte. Komplikationen und ein Schaden des Patienten sind vorprogrammiert.
Diese Mangelversorgung ist nicht nur geduldet sondern gewollt weil sie billiger ist als andere Lösungen.

Der immense Belegungsdruck welcher auf den Intensivstationen lastet wird aber auch in Richtung der Normalstationen weiter gegeben. Ein postoperativer Patient welcher noch intensiv Schmerztherapie, Atemtherapie und Mobilisationstherapie benötigt, wird auf einer Normalstation früher oder später untergehen. Selbst wenn das Personal dafür ausgebildet wäre, könnten sie aufgrund regelhafter Unterbesetzung die entsprechende Pflege gar nicht leisten.
Dies führt dazu, dass Patienten die mit der nötigen Unterstützung prinzipiell auf der Normalstation verbleiben könnten untergehen. Ohne eine gute Schmerztherapie wird der Patient sich nicht ausreichend bewegen, es kann zur Ausbildung von Beinvenenthrombosen kommen. Fehlt die notwendige Atemtherapie entwickelt der Patient minderbelüftete Areale in den Lungen, die Grundlage für eine Lungenentzündung. Mit Fortschreiten der Lungenentzündung geht es dem Patienten schlechter, schließlich muss er zurück auf die Intensivstation und gegebenenfalls sogar künstlich beatmet werden.
Das sind nur einige Beispiele, es ist wie immer weit komplexer, aber ich möchte es exemplarisch verständlich machen.
Nicht jeder Patient kommt zurück auf die Intensivstation, manche Patienten schaffen den Absprung Richtung Entlassung oder Reha. Je mehr Wackelkandidaten (=gelbe Patienten) man aber von der Intensivstation auf die Normalstation verlegt, desto höher wird das Risiko für Rückkehrer. 
Dann hat man zwei Probleme – auf der einen Seite eine rappelvolle Intensivstation mit richtig kranken Patienten (nur noch rote und orangene Patienten) und keine echten Verlegungskandidaten. Auf der anderen Seite Normalstationen die vermehrt anrufen und intensivmedizinsche Konsile anmelden weil sie sehen wie einige ihrer Patienten immer schlechter werden. 
Mittendrin der Intensivmediziner der sich dann entscheiden kann wer das Bett bekommt und wer „auf Normal“ muss.
Und was macht man dann, wenn der Rettungsdienst einen Patienten bringen will der zwei Straßen weiter reanimiert wurde? Oder wenn die Station anruft und einen Patienten ankündigt, der jetzt ins Herzkatheterlabor geht und danach ein Bett auf der Intensiv benötigen wird?

Was dann passiert habe ich in dem Artikel beschrieben der demnächst erscheint.

Der ewige Gewinner.

Für den Mediziner ist der Tod die ultimative Niederlage. Es ist der größte Feind und er gilt bekämpft, mit allen Mitteln. Bis zum Schluss. Und sei es auch die drölfte Chemotherapie, dem Patienten wird immer erzählt da geht! noch! was!
Warum eigentlich?
Schon wenn wir geboren werden ist klar, dass dieses kleine Herz auch irgendwann wieder aufhören wird zu schlagen. Warum muss man dann so krampfhaft alles tun um das unvermeidliche zu vermeiden? Warum vor allem scheuen sich Mediziner so sehr auch mal klar zu sagen: hier ist ein Leben gelebt worden und jetzt geht es zu Ende. Warum?
Die Antwort ist relativ einfach und für den Patienten, noch mehr aber für die Angehörige von schmerzhafter Konsequenz. Der Arzt wird darin ausgebildet zu helfen. Zu heilen. Zu retten. Den Tod als finale Niederlage zu akzeptieren wiederstrebt allem, was ein Mediziner im Studium und in der Ausbildung lernt und anderen lehrt. Und deshalb meidet der gemeine Arzt den Tod so konsequent es irgend möglich ist. Es wird nicht über das Ableben gesprochen (im Hospiz? Zuhause im Bett mit palliativer Pflege? Auf der Intensivstation? Beatmet?) sondern lieber nach weiteren lebensverlängernden Maßnahmen gesucht (Chemo? Bestrahlung? Heimbeatmung? Dialyse?). Den Patienten wird oft in blumigen Worten (ich war oft genug dabei!) von all den Möglichkeiten erzählt. Damit verbundene Einschränkungen werden wenn überhaupt sehr selten und mehr als Fußnote, kleinlaut und im Flüsterton und auch nur auf explizites Nachfragen erwähnt. Und Nachfragen kommen glücklicherweise sehr selten.
Nein, eine Chemotherapie ist kein Ponyhof. Und eine Dialysetherapie heißt mindestens dreimal die Woche für ca. 8 Stunden im Krankenhaus sitzen, dazu unzählige Katheterwechsel, tausend neue Medikamente, tausend mal tausend Nebenwirkungen und irgendwann das unter Medizinern berühmte „Dialysehirn“.
Die Vermeidung des Todes hört aber nicht mit dem Tod auf. Manche Patienten erdreisten sich tatsächlich zu sterben, tun dies dann auch noch im Krankenhaus und werden dann mit Laken überm Gesicht (warum eigentlich?) über den Lastenaufzug schnell in den Keller gefahren und von dort aus in einem abgedunkelten Fahrzeug abtransportiert. Ist der Tod so etwas grausames? Oder ist es nicht viel grausamer, wenn man sich ständig darum bemüht ihn zu verdrängen?

Vor ein paar Jahren lernte ich (damals noch Student) einen Patienten, Herr Postel, 54 J.  kennen. Seineszeichens im Amateurbereich erfolgreicher Fahrrad-Rennfahrer, immer viel an der frischen Luft, nie geraucht, jetzt mit metastasiertem Bronchialkarzinom*. Traurig, tragisch, ohne Frage. Der Familie wurden die üblichen Gespräche angeboten (ja, Chemo, auf jeden Fall… gute Prognose…müssen alles versuchen… noch keine Lebermetastasen…).
Für Mediziner ein klarer – weil hoffnungsloser – Fall. Für den Patienten und die Familie – aufgrund mangelhafter Aufklärung – eine ernste, aber zu überstehende Erkrankung. Nach außen sah man ja wenig von dem Tumor.
Herr Postel starb inmitten eines seiner unzähligen Chemotherapiezyklen – für einen Tumorpatienten typisch- sehr plötzlich, er hatte eine massive Lungenembolie (Verlegung der Hauptblutbahnen der Lunge). Nicht alle Tumorpatienten sterben einen langsamen Tod. Der Tumor macht tausend Veränderungen im Körper, eine mögliche Folge sind Gefäßgerinnsel mit plöztlichen Schlaganfällen oder eben Lungenembolien.
Die Familie fiel aus allen Wolken. Der wäre doch noch so gesund gewesen, sie haben doch noch im Garten gesessen, von Tod wäre überhaupt nie die Rede gewesen.
Die behandelnden Mediziner wiederum waren perplex. Für sie war es unausgesprochen (!) klar, dass diese Erkrankung zum Tode führen würde. Nur war eben nicht klar, wann.

Das Problem für die Familie war, dass es ein Unternehmen gab, welches von Herrn Postel als Geschäftsführer geleitet wurde. Ausstehende Großaufträge waren an seine Person gebunden, Verträge und prokuristische Rechte waren alleine für ihn festgeschrieben. Es gab keine Vorsorge, weil keiner damit rechnete, dass man an sowas auch mal sterben könne. Die Firma wurde letztlich unter den beiden Söhnen aufgeteilt, der eine wollte, der andere wollte nicht, das Erbe wurde ausgezahlt, die Firma verkauft, letztlich insolvent, die Mitarbeiter arbeitslos.
Klar, hätte man auch unabhängig von der Erkrankung viel eher vorsorgen müssen aber  hier trifft die behandelnden Mediziner nach meinem Erachten eine Teilschuld, weil wieder mal das unvermeidliche gemieden wurde.

Und so bleibt am Ende als ewiger Gewinner immer der Tod. Ich für meinen Teil sehe den Tod als Teil des Berufs, Teil der Krankheit. Ich freue mich, wenn ich Menschen durch Gespräche oder auch Medikamente die Angst vor dem Tod nehmen kann. Statt Angst vor einer erneuten Niederlage gegen den ewigen Gewinner zu haben konzentriere ich mich darauf den Angehörigen Mut zu machen ihren geliebten Menschen gehen zu lassen und dann den letzten Weg gemeinsam zu gehen. Oft erlebt man dabei wunderbar friedliche Momente. Solche Gespräche dauern manchmal eine Stunde, manchmal auch länger und sind in jedem Fall aufwendiger als eine Dialyseanlage ins Zimmer zu fahren und anzuschließen aber sie sind wichtig und gut und richtig.
Es gibt ein Umdenken in der jungen Medizinergeneration, ich glaube wir sind da auf einem guten Weg.

*metastasiert: der Tumor hat im ganzen Körper gestreut, auch als Tochtergeschwulste bezeichnet (warum eigentlich Töchter?), per definition wird in fast allen Fällen nur noch die Symptome (Schmerzen etc.) des Tumors, nicht mehr die Ursache bekämpft weil dieser überall ist

*Bronchialkarzinom: unter den fiesen und bösartigen Krebsarten eine besonders heimtückische weil man ihn meist erst bemerkt, wenn es zu spät ist. Macht gerne Tochtergeschwulste im Gehirn.

Evelin

Evelin (82 J., w.) war immer für alle da.
Für ihre Familie, die Kinder und Enkel, die in mittlerweile fünfter Generation ein sehr gut gehendes Restaurant führen und auf Evelins tatkräftige Unterstützung zählen. Morgens packt sie als erste bei den Backwaren an, weil die als Vorspeise gereichten Brote nach wie vor von Evelin gebacken werden. Wenn die Urenkel von der Schule kommen passt sie auf die kleinen auf, damit die Eltern sich dem Mittagsgeschäft widmen können. Nachmittags arbeitet sie im Café mit, Evelins Apfelkuchen – so viel Klischee muss sein – hat seine eigenen Fans. Ganz ohne Facebook.
Abends bringt sie die Urenkel ins Bett, die bestehen darauf, weil die Uroma so viel Zeit mitbringt. Da ist auch meistens noch die eine oder andere Zugabe mit drin, Evelin guckt da nicht auf die Uhr. Das hat sie schon bei ihren Kindern und Enkeln so gemacht, warum sollte es dann bei den Urenkeln anders sein.
Evelin wollte eigentlich studieren, Lehrerin wäre sie gerne geworden. Da hätte sie mit Kindern arbeiten können. Das ging aber nicht, das hatte der Vater verhindert. Das könne man ja immer noch machen, im Moment sei dafür kein Geld da. Und überhaupt, Frauen, Studium. Und dann war da ja auch Albert, eine sichere Bank und ein Fels in der Brandung. Eine richtig gute Partie und ihre erste große Liebe.
Evelin hat sich auch um ihren Albert gekümmert. Albert war immer ein Macher. Restaurant von den Eltern übernommen, Haus angebaut, Kinder in die Welt gesetzt, Restaurant ausgebaut, gewonnen, verloren, wieder aufgestanden, geleitet, geführt, motiviert. Zuletzt wurden die Lücken größer, die Gespräche fahriger, die Tagesabläufe wichen immer öfter von der Routine ab. Evelin gab ihrem Mann den Halt, den er ihr bisher immer gegeben hatte. Eine Weile blieb ihre Welt damit im Lot, aber es drohte alles immer mehr zu schwanken. Zuletzt musste Albert wegen einer Rauchvergiftung ins Krankenhaus. Er hatte Hunger und wollte sich eine Scheibe Brot auf der Herdplatte erwärmen. Es war noch in der Plastikfolie.
In der Geriatrie (Fachabteilung für den alternden Menschen) wirkte Albert sehr sortiert und es wurde die weitere Versorgung nach der Entlassung geplant. Albert bekam eine Zusage für einen Platz in der Seniorenresidenz. Weil es ihm so gut ginge wolle man aber doch nochmal ausprobieren, ob er nicht doch nochmal nach Hause könne. Nur für ein oder zwei Tage. Den Platz im Heim könne man ja immer noch annehmen. Die Kinder redeten ihrer Mutter gut zu, kein Problem Evi, wir stehen Dir bei.
Evelin wusste um die Probleme, die sie erwarten würden. Am Abend vor Alberts Entlassung zogen sich die Wolken immer dichter zusammen. Was wie ein Gewitter anfing bedrohte sie, machte sie einsam, klein, isoliert von der Welt um sie herum. Nein, ihre Kinder haben ja genug eigene Sorgen, die kann sie nicht damit belasten. Und dann die ständigen Schmerzen. Ihre Hausärztin hatte ihr ja etwas verschrieben, aber sie wurde trotzdem nachts von Schmerzen wach. Jeder Schritt wurde zu einer Qual, die Schmerztropfen brachten immer nur eine kurze Linderung. Wie sollte sie sich da auch noch um Albert kümmern können? Und die Kosten der Seniorenresidenz, die Hilflosigkeit, die unendliche Traurigkeit wenn Albert sie nicht mehr erkannte und fragte wer sie denn eigentlich sei und ob sie hier auch wohne und dann lagen da die Tabletten. Die hatte die Hausärztin ihr auch mal aufgeschrieben. Damit sie besser in den Schlaf finden kann, wenn sie Gedanken daran hindern. Ja, nach Schlaf war ihr jetzt. Nach langem Schlaf.
Evelin drückte die Tabletten aus dem Blister heraus, nahm die 30 Tabletten ein und schlief neben dem Abschiedsbrief ein.

Evelin

Verzeiht mir.
Ich kann und will so nicht mehr leben jeder Schritt ist eine Qual nicht erst seit heute
habt Dank für Alles
ein Pflegefall ist für Euch genug

Evelin kam schlafend zu mir und schlief 30 Stunden durch. Als sie wach wurde waren ihre Kinder bei ihr. Aus München und Kiel, Andreas kam extra aus Oxford.
Evelin bekam von uns ein Konsil vom Schmerztherapeuten der ihr ein Rundum-Wohlfühlantischmerzpaket strikte, die Kinder erzählten ihr, dass Albert sich bereits prächtig in der Seniorenresidenz eingelebt habe und das die Urenkel abends überhaupt nicht eingeschlafen seien und darauf warten, dass Evelin endlich wieder nach Hause kommt. Evelin war immer für ihre Familie da, das Oberhaupt, die Schaltzentrale.
Zu akzeptieren, dass man auch mal die Hilfe anderer in Anspruch nehmen darf gehört auch zum älter werden. Ich hoffe, ich denke daran, wenn ich älter werde.
Nach dem üblichen Prozedere (mit Einweisung in die Akutpsychiatrie) und Ausschluss einer akuten Suizidalität durch den Psychiater wurde Evelin bei „guter sozialer Einbindung“ entlassen. Nach Hause.
Alles Gute!

Anaphylaktischer Schock.

Gerade als ich mich gemütlich auf der Intensiv eingerichtet habe und den Desktop mit den von mir favorisierten Heimseiten des weltweiten Netzes bestückt hatte meldet sich mein Telefon mit dem unbeliebten Notfall-Klingelton wie ihn nur die liebreizende Zentrale zu schicken weiß.

„Der Notarzt ist mit einer Patientin in 5 Minuten da, Anästhesie und Internist, Reanimationsbereitschaft“.
Na dann mal sehen, wer da kommt. Andreas – unser eigener Notarzt, selbst Narkosearzt – war draußen unterwegs, der wird das schon im Griff haben. Oder es kommt so richtig dicke. Wenn der schon die Anästhesie dabei haben will… aber wie sagte mal ein erfahrener, ärztlicher Kollege auf dem fliegenden Christoph: „Früher hab ich im Notarztdienst schon vom Gluckern der Heizung einen Herzinfarkt bekommen, heute fliegen wir erstmal hin und gucken uns die Lage an. Aufregen können wir uns immer noch“.

Anstatt – sortiert und strukturiert über den Schockraum – wurde von dem mir gut bekannten Notarzt – es war nicht Andreas – eine Patientin direkt auf die Intensiv gekarrt. Moooooment! Anstatt Andreas stand ein notärztlich tätiger Kollege aus der Nachbarstadt des Grauens auf meiner Intensiv mit folgender Patientin:
43j, w, Sonderpädagogin im vorzeitigen Ruhestand (sic!), bekanntes MCS, 19239 Allergien, Asthma (is klar), Z.n. Burnout (jetzt wird ein Schuh draus) wird nach Ingestion einer Möhrensuppe (wer isst sowas??)  schwindelig worauf Sie den Rettungsdienst verständigt und von der Leitstelle einen Notarzt fordert welcher auch prompt frei Haus geliefert wird.
Dieser rast hin, Viggo angelegt, Vitalparameter mit 80/40 und HF 130/min und gibt Suprarenin. Immerhin erstmal 1 zu 10, aber Supra. Und über die Viggo rauscht ne HAES rein. Das hat mich dann doch aufgeregt. Über das Supra kann man diskutieren, aber die HAES? Ich kenne wenig Medikamente die so gerne allergische Reaktionen auslösen wie HAES. H1- oder H2-Blocker wurden konsequenterweise ebensowenig gegeben wie Cortison.

Also Infusion abgefriemelt, Betablocker, Benzodiazepin und Ruhe ist. Die Vitalparameter stabilisierten sich umgehend, eine wirklich allergische Reaktion lag wohl nicht vor. Mich ärgert wie unbesorgt immer wieder HAES gegeben wird, obwohl es ein Medikament ist, dass doch manchmal recht starke Nebenwirkungen auslösen kann. Viele hängen das mal eben an, läuft rein, Druck ist gut und das obwohl es zur Zeit – außer in der Geburtshilfe – gar keine Zulassung dafür mehr gibt. Es gab da wohl so einige gefälschte und auch ausgedachte Studien…
HAES kann unter Umständen einen ziemlich lästigen und bleibenden, therapierefraktären (also nicht behandelbaren) Juckreiz auslösen. Die Moleküle die in der HAES sind können schlichtweg aufgrund ihrer Größe nicht so schnell über die Niere ausgeschieden werden (was ja auch der Sinn und der Effekt der HAES ist) und werden dann irgendwann in der Haut abgelagert. Macht der Körper so. Wenn ich nicht weiß wohin mit dem Müll, dann muss man irgendwo eine Halde finden. Ähnlich wie bei der gelben Haut, wenn das Bili nicht mehr ausgeschieden werden kann. Und auch das macht einen fiesen Juckreiz bei dem auch ein Fenistilbad nichts mehr bringt.
Ich habe übrigens in den letzten zwei Jahren keine HAES mehr benötigt. Einen schönen Blutdruck bekommt man auch mit anderen Dingen hin. Auch präklinisch.