Worte

Ein Abschied verleitet immer dazu, etwas zu sagen, was man sonst nicht ausgesprochen hätte.
– Michel de Montaigne

Die allermeisten Patienten die bei uns auf der Intensivstation behandelt werden, können wir retten. Manchmal erkennt man aber schon innerhalb der ersten Stunden, dass wir den Kampf ums Leben verlieren werden.
Die Angehörigen sind für mich immer ein wichtiger Bestandteil des therapeutischen Erfolges auf der Intensivstation. Sie können den Patienten motivieren, unterstützen, Perspektive und vor allem Orientierung geben. Zwischen ganz vielen fremden und neuen Gesichtern und Stimmen, sind es die Angehörigen die Sicherheit vermitteln können. Du bist sicher hier, die kümmern sich gut um Dich, das wird wieder.
Befindet sich der Patient im Koma, so liegt es an uns (den Ärzten und Pflegekräften), dass wir nicht nur dem Patienten Aufmerksamkeit widmen sondern auch die Angehörigen unterstützen. Die Angehörigen machen eine oft extreme Zeit durch in der sie zu wenig essen, zu wenig schlafen und zu viele Tränen weinen müssen.

Insbesondere wenn die Therapiemaßnahmen nicht greifen und die Situation sich trotz des maximalen Einsatz von Technik und Medikamenten immer weiter verschlechtert, dann müssen wir die Angehörigen darauf vorbereiten, dass wir zwar weiter hoffen und weiter all unsere Kraft und Möglichkeiten für das Leben des Patienten einsetzen, aber möglicherweise am Ende den Kampf verlieren werden.

Der Abschied und die Vorbereitung auf den Abschied gehört zur Intensivmedizin.
Ich habe recht früh schon im Studium im Rahmen eines der vielen Praktika erlebt wie fatal es sein kann, wenn Angehörige sich in falscher Sicherheit wiegen. Obwohl der Patient eine bösartige Grunderkrankung hatte und der Lungenkrebs bereits mit vielen Metastasen in mehreren Organen und Knochen gestreut hatte, wurde den Angehörigen Hoffnung gemacht.
Teilweise weil die Ärzte sich die Niederlage nicht eingestehen konnten, vielleicht auch weil sie selber so sehr mitgehofft und gebangt haben, dass Sie trotz aller Professionalität verdrängten wie sich der betreute Patient immer weiter vom Leben entfernte und dem Tod näherte.

Vor ein paar Wochen betreute ich Herrn Schuller, einen betagten Herrn mit fortgeschrittenem Nierenzell-Karzinom. Der Krebs hatte hier bereits weit gestreut, es gab Metastasen in der Leber, in der  Lunge und auch im Kopf.
Eine Metastase kann so lange wachsen, wie sie Platz hat und nicht einblutet. Der Krebs wächst mit seinen kaputten Zellen die nur auf Wachstum programmiert sind in die gesunden Zellen hinein, zerstört und verdrängt sie. Dies kann im Gehirn dazu führen, dass ein epileptischer Anfall ausgelöst wird, ein elektrisches Gewitter über alle Gehirnzellen hinweg. Bedrohlich anzusehen für die Umstehenden, der ganze Körper zuckt, Schaum kann sich vor dem Mund bilden, der Patient der gerade noch entspannt beim Kaffeetrinken saß liegt zuckend am Boden und ist komplett aus der Welt. Genau dies passierte bei Herrn Schuller. Zu einem Zeitpunkt als man dachte der Krebs habe einen Dämmerzustand erreicht, nach Monaten voller guter Nachrichten und ohne neue Hiobsbotschaften kam das aus dem Nichts.
112, großer Aufmarsch der Rettungsdienste, Krankenhausaufnahme, CT. Der Patient hatte für sich immer lebensverlängernde Maßnahmen ausgeschlossen, mehrfach sprach er mit der Familie darüber, dass er keine Intensivtherapie wolle, es gab eine wasserdichte Patientenverfügung.
Jetzt wechselte die Auseinandersetzung mit dem Lebensende von trockener Theorie auf Büttenpapier viel zu schnell und dann doch für alle überraschend die Seiten.
Der behandelnde Onkologe drängte auf eine Verlegung in die Neurochirurgie, Not-OP, sofort. Die Familie schloss sich dem an, ja, eine OP. Das wäre die Lösung.
Der Patient wurde uns überwiesen und wurde per Hubschrauber in unsere Klinik geflogen. Große Hoffnungen und eine noch größere Familie begleiteten den Patienten und fuhren im Auto hinterher. In unserer Klinik klarte der Patient zunehmend auf, er lehnte eine Operation vehement ab. In der Bildgebung stellte sich heraus, dass nicht nur eine einzelne sondern mehrere Metastasen im Kopf waren, zwei davon waren schon eingeblutet, eine Operation wurde ausgeschlossen.
Ein Wunder überhaupt, dass Herr Schuller wieder zu sich kam.
Die Familie war noch nicht da, durch den luftgebundenen Transport hatten wir ein bißchen Vorsprung. Ich ging zu Herrn Schuller, wir sprachen mit einander.

ND: Sie sehen müde aus.
Pat: Ich möchte schlafen.
ND: Sie hatten einen Krampfanfall.

ND: Da ist eine Metastase in ihrem Kopf.
Pat: Da sind überall Metastasen. Ich möchte nicht mehr kämpfen.
ND: Ihre Familie ist hier, die wünschen eine OP. Wir glauben nicht, dass Ihnen eine neue OP helfen würde.

Pat: Ich möchte schlafen.
ND: Sie dürfen einschlafen. Aber ich möchte, dass Sie wissen, dass dies sicher das Ende ist und dass Sie nicht mehr wach werden.
Pat.: Ich weiß das. Ich möchte schlafen.

ND:  Ich werde auf sie aufpassen, ich verspreche Ihnen, dass Sie keinen Hunger, keinen Durst, keine Schmerzen, keine Luftnot und keine Angst haben werden.
Pat: Ich vertraue Ihnen. Ich habe keine Angst, ich möchte jetzt gehen.

Ich bat die Pflegekraft einen Morphinperfusor zu starten.
Morphin ist großartig, es lindert Schmerzen, nimmt Ängste weg und macht einen Menschen völlig unempfindlich für Luftnot, da kann der Mensch noch so sehr brodeln.

Ich ging zur Familie. Die Familie war sehr aufgebracht, als ich Ihnen mitteilte wie wir uns entschieden hatten und dass diese Entscheidung dem Willen des Patienten entspricht.
Die Schärfe und moderate Aggression entstand aus Liebe. Eine tiefe, ehrliche, über Jahrzehnte gewachsene Liebe zu ihrem Vater, Opa, Schwiegervater, Ehemann und Bruder. Eine große Familie die ein noch größerer Schmerz einte weil hier die Gewissheit den Raum füllte, dass das geliebte Oberhaupt der Familie bald schon nicht mehr bei Ihnen sein würde.

Ich erklärte der Familie, dass selbst theoretisch eine Operation nur zu einer Verschleppung der Entscheidung geführt hätte. Wir hätten ihn dafür beatmet, wir hätten ihn operiert und nach ein paar Tagen hätte man festgestellt, dass er überhaupt nicht mehr wach wird. Wir hätten ihn nicht tracheotomiert sondern hätten an einem der folgenden Tage dann die Beatmung abgestellt. Ein sehr kalter Akt, ein abruptes Ende ohne echten Abschied.

Nachdem ich sehr viele Fragen beantwortet, Trost gespendet und etliche Tassen Kaffee verteilt hatte machten wir uns gemeinsam auf den Weg zu seinem Bett.

Ich sagte Herrn Schuller, dass wir gekommen sein um Abschied nehmen zu können. Ich sah sowas wie ein sehr müdes Lächeln. Ich glaube er hätte gerne noch etwas gesagt, aber er war schon zu schwach dazu.
Für einen Atemzug brauchte er alle Energie die in seinem entkräfteten Körper noch vorhanden war, sein Kopf wippte bei jedem Atemzug nach oben und fiel kraftlos nach unten. Er sah angestrengt und sehr müde aus.

Ich sprach ein letztes Mal mit Herrn Schuller:
ND: Herr Schuller, haben Sie Luftnot?
Herr Schuller schüttelte den Kopf.
ND: Haben Sie Angst?
Er schüttelte den Kopf.
ND: Herr Schuller, ich gehe jetzt. Ich lasse Sie jetzt mit Ihrer großartigen Familie alleine. Ich habe mich sehr gefreut Sie kennengelernt zu haben und es war mir eine Ehre sie auf den letzten Metern begleiten zu dürfen.

Herr Schuller atmete bis zuletzt sehr ruhig, zuletzt immer flacher. Frau Schuller hielt ihren Mann bis zum letzten Atemzug im Arm. Der Monitor zeigte uns um 23:44 Uhr eine Nulllinie an.
Ich ging zur Familie und sprach Ihnen mein tief empfundenes Beileid aus.
Wir erlebten eine große Dankbarkeit. Ich hörte sehr herzliche Worte für unser Team.

Die Tochter, die beiden Söhne, gerade noch voller Wut über die Machtlosigkeit gegenüber dem Tod waren vereint in der Erleichterung darüber, gemeinsam die letzten Meter mit Papa gegangen zu sein.
Die Kinder und seine Ehefrau waren voll des Lobes über unser Team und dass Sie hier und in diesem Rahmen Abschied nehmen durften und sie standen ums Bett, lehnten am und saßen im Bett.
Der älteste Sohn kam auf mich zu, sehr muskulös und tättowiert, ein großer und sicher sehr starker Mann. Er umarmte mich, einfach so. Und vielleicht habe ich in dem Moment ein bißchen weinen müssen.

Mach’s gut Herr Schuller!

Lehrjahre

Ich bin im Moment schwer in der Ausbildung. Ich war einige Zeit im Schockraum eingeteilt, wurde dann der Kinderurologie und Kinderchirurgie zugeteilt, bin dann in die Kardioanästhesie (Herzchirurgie) rotiert vorher war ich noch schnell vier Monate bei den Internisten um in Sachen Ultraschall fit gemacht zu werden und jetzt werde ich in die Schmerztherapie wechseln.
Das alles hat mich ziemlich in Beschlag genommen und zwischendurch hämmert mal dieses kleine Männchen an und meinte wie es denn mal mit einem Blogeintrag wäre. Könnte man ja mal wieder machen.
Geschichten gab es genug, es ist wie immer, man kommt ja zu nichts.

Da war zum Beispiel die auf dem Parkplatz einer großen Supermarktkette überfahrene ältere hochbetagte Dame. Auf dem Weg zum Samstagseinkauf, läuft quer über den Parkplatz.
Eine alte Dame, die eine klare Vorstellung davon hatte wie sie am zügigsten von A nach B kommt und auch genau. diesen. Weg. geht. Wir kennen diesen Typ Rentner.
Und dann war da ein LKW, hatte von seinen geladenen 40 Tonnen gerade vielleicht fünf in Form von Wasserkisten und Frischobst abgeladen und wollte nach links vom Parkplatz abbiegen. Es prallten zwei Welten aufeinander. Eigentlich prallten die nicht sondern glitten in Schrittgeschwindigkeit ineinander. Die Dame hing halb im Radkasten und lag halb unter dem LKW. Rettungsdienst, Polizei, großes Aufgebot, viel Geschrei, Blaulicht, Luftkissen, Narkose, technische Rettung, Stabilisierung, Lufttransport, Traumzentrum, Schockraum, CT mit der Diagnose eines massiven und mit dem Leben nicht vereinbaren Schädelhirntraumas. Zwischenzeitlich war die gute Dame beatmet, die restlichen Verletzungen hielten sich weitestgehend im Rahmen. Die Kinder kamen zu uns auf die Intensiv, es folgte ein längeres Gespräch, Besuch am Krankenbett, danach noch ein Gespräch. Es fielen die Worte infaust, ohne Prognose, Hirntod, Maschinen abstellen. Es war Freitagmittag. Ein Sohn der Patientin sollte noch die Möglichkeit zum Abschied bekommen, er befand sich auf der Rückreise aus Schweden. Es könne Samstagmittag werden. Wie aus der Pistole kam vom Sohn in einem Stakkato der im folgenden wiedergegebene Wortlaut und ich übertreibe nicht, wie könnte man auch, das kann man sich ja nicht ausdenken – „Aber stellter se nich zwischen 15:30 und 18 Uhr ab! Da spielt der S04 und wir sind im Stadion und wir sind immer im Stadion! Dat hätte unser Omma nich gewollt. Wir kommen dann nachem Spiel und dann machen wir die Oma aus.“

Und dann war da noch der notärztliche Kollege der mir am Mittagstisch von einem Einsatz bei einer wohlbeleibten Dame berichtete. Die hätte sicher 150kg gewogen (da hatten wir doch schon wirklich schwerere Kaliber) und dann hätte die keine Luft bekommen. Sie hätten die intubieren müssen (ja wirklich? Warum kein NIV-Versuch?). Das war aber nicht möglich, da war gar! nix! zu! sehen. Unmöglich. Macht mit dramatischem Blick und flacher Hand in der Luft klar, dass auch der routinierteste Atemwegsfinder hier kei-ne-Schang-tze gehabt hätte.
Und dann sei sie gestorben. Könne man nichts machen. War einfach zu dick.
Es gibt dieses Emoticon mit den großen Augen, kennt ihr das? Erste Reihe ganz rechts. So saß ich da. Mit einer Mischung aus Verwunderung, Sprachlosigkeit, Wut, Aggression (ALTER!!!) und Frustration.
Alleine das wäre ein ganzer Artikel wert, aber… ach. Es ist wie es ist.
Wir haben das zum Anlass genommen und einen Kurs „Atemwegsmanagement für Notärzte“ ins Leben gerufen. Findet jetzt halbjährlich statt, wird sehr gut besucht. Wir machen nicht irgendwelchen Bonfils-Firlefanz sondern stellen den Larynxtubus und seine Geschwister vor, immer wieder. Vielleicht hilft es ja was.

Und dann war da die Frau eines Patienten den wir am Herzen operiert haben. Herzklappe raus, drei neue Bypässe. Schon eine wirklich, richtig große OP, mit Herzlungenmaschine und allem Schnickschnack. Wir rufen nach jeder OP die nächsten Angehörigen an und sagen einfach, dass der Patient auf der Intensiv ist, alles gut, schläft noch, ab morgen Besuch, können Sie jederzeit anrufen. Und da sagt mir die Frau „Toll, das ist gut zu hören. Sagen Sie meinem Mann bitte wenn er wach ist, dass ich den Wagen in die Werkstatt gebracht habe und dass ich die Winterreifen schon drauf hab, dann freut er sich!“ Ja. OK.

Oder der Herr, dem wir eine neue Klappe und vier Bypässe operieren wollten und der mich im Prämedikationsgespräch am Mittwoch doch allen Ernstes fragt, ob er am Freitag wieder zuhause ist, er hätte ja zwei Katzen und seine Frau sei so schlecht unterwegs die habe ja auch so schlimm Knie. Mittwoch. Freitag. Herz-OP. Merkste was?

So in etwa geht es. Mal lustig, mal traurig, nie planbar.
Relaxierte Grüße,

der Narkosedoc

Sche** Fernsehen. Definitionssache.

Sonntagabend, der fleißige Allgemeinchirurg hat noch ein Gute-Nacht-Pickelchen aufgemacht und weil er mit einer kleinen OP einfach besser in den Schlaf findet soll ich doch bitte hier mal noch schnell Narkose machen. Die berühmt berüchtigte Lust-OP. Aber wir müssen uns beeilen, weil sonst geht der Pickel noch von selbst auf und dann kann man ja nicht mehr operieren! Aber das nur am Rande.
Die Pat. (eher so untergroß und unterpfiffig) freute sich über die medizinische Zuwendung zu ihrem seit 11 Tagen bestehenden und jetzt aber wirklich ganz arg schlimmen Pickel!!
In dem Smalltalk rund um die Anästhesie-Standardfragen sehe ich, dass es mittlerweile 20:17 Uhr und damit Zwei-Minuten-nach-Tatort-Zeit war.
Narkosearzt: -Oh, es ist ja Zwei-MInuten-nach-Tatort-Zeit!“
Frau Unteralles: – ?!?!?!?!!! HÄ?
NA: – Naja, is doch Sonntagabend? Tatort? Guckensenich?
Frau Unteralles: Nee, so ’ne Schei** guck ich nicht.
NA: – Also soooo kann man das ja nicht sagen. Das sind ja mittlerweile sehr aufwendig produzierte Filme die teilweise ja schon eher Kinoform…
Frau Unteralles: – Neee. So ne Schei** gucke ich nicht. Das is doch voll schlecht.
NA: – (OK, Tatort is ja auch eher so Geschmackssache. Hab ich sie unterschätzt? Doch eher die ARTE-Reportage über Bauernkriege im polnischen Hinterland des 16. Jahrhunderts?) Was gucken sie denn gerne?
Frau Unteralles: GZSZ. Das is RICHTIG gut.

– Läuft.