Erster Tag auf der Intensivstation – aus der Praxis für die Praktiker

Als ich kurz nach dem Berufseinstieg das erste Mal auf der Intensivstation eingeteilgt wurde habe ich die Nacht vorher nicht gut geschlafen. Diese ganzen Kabel, Medikamente, Schläuche, Einheiten, Parameter und vor allem – ich kannte keinen der Kollegen. Weder von der Pflege noch von den Ärzten.
Es war kaltes Wasser und tief war es auch.
Rückblicken muss ich sagen hatte ich überhaupt keinen Plan.
Wie gerne hätte ich damals jemanden gehabt der mir mal praktisch (!) sagt, wie man an so einen Intensivpatienten rangeht. Körperliche Untersuchung und Verordnungen macht ein Hausarzt ja auch und außerdem lernt man diese Basics ja im Studium, oder?
Was soll daran also so schwer sein?
Was unterscheidet denn den Intensivpatienten vom Patienten beim Hausarzt?
Mir fallen spontan 4 Punkte ein, die Liste lässt sich bestimmt verlängern (aktive Mitleser vor 😉

1) Unsere Patienten können meistens keine Fragen beantworten (weil sie einen Tubus im Hals haben),
Für eine richtige körperliche Untersuchung ist die Mitarbeit des Patienten sehr wichtig. Wir müssen meistens alleine klar kommen.
2) Unsere Patienten haben nicht ein einziges („Herr Hausarzt ich habe so Halsschmerzen…“) sondern meist gleich mehrere Probleme.
Manche Patienten benötigen wegen einer Arrhythmia absoluta eigentlich eine effektive Antikoagulation damit sie keinen Schlaganfall bekommen, aus der frischen OP-Drainage soll es aber auch nicht bluten.
3) Die Probleme treten meist nicht nur in der Mehrzahl auf sondern dann oft auch von recht komplexer Struktur.
4) Unsere Patienten schweben die längste Zeit in akuter Lebensgefahr – sonst wären sie nicht dort. Und wenn Sie stabil sind werden sie wieder verlegt.

Wie geht man jetzt an sowas ran?
Hier ein paar Tipps wie man es machen kann.

1) Stell Dich vor!
Du bist der oder die Neue, es gehört sich so, dass Du Dich bei Deinen neuen Kollegen vorstellst nicht Deine Kollegen bei Dir, das ist eine Frage der Höflichkeit.
Es sei denn Du bist Kronfürstin Viktoria zu Krummbieg von der Hohenwiese und möchtest auch so behandelt werden. Wird dann aber keine schöne Zeit.
Wichtig – wir sind ein Team! Der Chefarzt ist genauso wichtig wie die Putzfrau, der Physiotherapeut genauso wichtig wie die Codierer. Also – begrüß Sie alle, zur Not auch mehrfach.
Und bring einen Kuchen oder eine Schüssel Süßigkeiten mit und schreib Deinen Namen drauf. Klingt nach billig erkaufter Freundschaft? Klar, aber was im Supermarkt an der Kasse mit Kindern funktioniert, klappt bei uns schon allemal.

2) Mach Dich mit dem Tagesablauf bekannt
Was läuft morgens als Erstes? Wer kann verlegt werden? Wer benötigt Diagnostik und wo melde ich die an (telefonisch? elektronisch?)? Wann macht die Pflege Übergabe? Wann sind geeignete Zeiten für Prozeduren wie Katheterwechsel / Drainagen / Tracheotomien?

3) Such Dir in der Pflege Vertraute
Ich habe von den erfahrenen Pflegekräften sehr viel gelernt. Ich habe von den Pflegekräften sehr viel mehr gelernt, als von meinen ärztlichen Kollegen. Ich habe nicht nur die kleinen Tipps und Tricks im Umgang mit manchmal zickigen Kathetern gelernt. Es waren die Pflegekräfte die wussten wie man die Dialyse wieder zum Laufen bringt, wie man die Beatmung so einstellt, dass wieder Luft reingeht und so weiter.
Das Leben und Arbeiten auf der Intensivstation macht sehr viel mehr Freude wenn man Freunde hat. Es wird zur Hölle wenn Du Dir Feinde in der Pflege machst. „Wer ist hier der Arzt?“ gehört nicht zu den Sätzen die einem das leben leichter machen.

4) Finde am ersten Tag heraus wo die wichtigsten Dinge gelagert sind und wie sie funktionieren!
Das Reabrett, der Defibrillator, der Wagen für den schwierigen Atemweg, der Notfallwagen für Katheter, die Bronchoskope, Zugänge, Infusionen, (Notfall)-Medikamente.
Es bleibt im Notfall keine Zeit für Erklärungen. Kleinere Notfälle gibt es eigentlich jeden Tag, richtige Notfälle gar nicht so oft wie man denken würden. Wenn es aber einen richtigen Notfall gibt ist es besser wenn Du schon mal weißt wo der Defibrillator steht und wie man ihn anmacht. Und wie man einen Blutdruck misst. Das ist doch banal? Nein, keineswegs. Bei den Defis der R-Serie von Zoll ist zum Beispiel der Knopf für die Blutdruckmessung mitnichten so wie bei allen anderen Defibrillatoren irgendwo im Menu zu suchen. Es ist ein kleiner Knopf an der Seite den man meistens nicht sehen kann, weil da ein Kabel vorhängt. Unabhängig davon meiner Meinung nach eines der besten Geräte, aber das soll hier nicht Thema sein.

5) Lege Dir ein Konzept zurecht
Genau wie in der Notfallmedizin sollte jeder Intensivpatient nach einem festen Schema untersucht werden. Dafür gibt es meistens standardisierte Untersuchungsbögen auf den Intensivstationen. Irgendwas fehlt aber immer auf diesen Bögen. Ich habe noch nie einen wirklich guten, kompletten Untersuchungsbogen gesehen. Deshalb hilft es auch ein eigenes Konzept zu haben.
Wichtigster Punkt – für jeden Patienten sollte für jeden Tag ein ganz konkretes (!) Therapieziel stehen. In den meisten Fällen ist das entweder eine Deeskalation der Therapie (z.B. mit dem Ziel der Verlegung auf die Normalstation) oder Eskalation der Therapie.
Wie kann so ein konkretes Tagesziel aussehen? Zum Beispiel so:

  • erstmalig aus dem Bett herausmobilisiert
  • Medikamente (teilweise) oralisiert
  • Schmerztherapie optimiert
  • Therapielimitierung besprochen
  • Reha-Platz organisiert
  • ZVK entfernt (weil nicht mehr benötigt) und PVK anglegt

6) Nachfragen ist besser als Klugsch***en:
Frag nach – wie macht ihr das?
Sag nicht an Deinem ersten Tag – bei uns in Pusemuckel haben wir das so gemacht.  Das will keiner hören! Wirklich. Wir haben hier auch Strom und fließend Wasser und wenn in Pusemuckel alles besser war dann wärste halt besser da geblieben.
Besser ist es positives hervorzuheben! Ihr habt ein festes Belegungsschema für die ZVKs? Das finde ich klasse, bei uns in … war das immer totales durcheinander, das hat jeder gemacht wie er wollte.
Und deshalb – frag nach Hausstandards / SOPs und halte Dich dran!
Die Pflegekräfte werden es Dir danken, wenn sie ein einziges und nur ein einziges Mal (!) etwas genau. so. vorbereiten können wie es dann auch gemacht wird.

7) Ein ganz wichtiger Punkt (danke an Ø. s.u.):
Versuch nicht den souveränen Großmediziner zu spielen, wenn nichts dahinter steht. Wir sind alle vom Fach.
Unterschätze niemals eine Pflegekraft. Du hast vielleicht an der Uni gelernt, dass Medikament X an Rezeptor Y geht. Die zuständige Pflegekraft weiß dafür wann dieses Medikament wirkt, in welcher Konzentration es wirkt und warum man das bei diesem Patienten vielleicht besser nicht geben sollte.
Unterschätze niemals das Fachwissen eines Patienten der seit 20 Jahren dialysepflichtig ist. Deine Theoriekenntnisse sind nichts wert ohne klinische Erfahrung! Und klinische Erfahrung bekommt man erst nach vielen Jahren, das kann man nicht beschleunigen.

8)
Suche den Kontakt zu den Pflegekräften.
„Die Pflege“ hat ein feines Gespür dafür ob Du Dich für sie und die Patienten interessierst oder nicht. Nutze die Möglichkeit die Viertelstunde bei der Übergabe dabei zu sein. Hör Dir an, welche Probleme es bei den Patienten gibt, bring Dich ein (wenn Du gefragt wirst!).

9)
Lies Bücher, geh zu Workshops, bilde Dich mit Journals fort.
Du wirst recht bald feststellen, dass im Alltag gut klarkommst. Dann kannst Du in dem Trott weitermachen und Dich die nächsten Monate und Jahre so durchschlagen.
Der Anspruch an unsere Versorgung muss aber sein es nicht irgendwie, sondern so perfekt wie möglich zu machen. Deshalb lies, nutze FOAM (free open access medical education), frag Deinen Chef nach aktuellen Zeitschriften und bearbeite sie. Melde Dich für Vorträge zu Themen die für Dich wichtig sind, Dir aber noch Kopfschmerzen machen – das führt zu einer intensiveren Auseinandersetzung und einem anhaltenden Lerneffekt.
Und lies jeden Abend zwei bis vier Seiten in einem Buch über Intensivmedizin. Das dauert 10 Minuten, tut nicht weh und nach drei bis vier Monaten hast Du das Buch durch. Und hast Patient Blood Management verstanden.

Auch diese Liste lässt sich beliebig erweitern, es soll nur ein Denkanstoß sein.
Wie man einen Patienten auf der Intensivstation konkret untersuchen kann werde ich in einem der nächsten Blogposts erklären, für heute und für den ersten Tag soll das hier erstmal reichen.

PS: Ergänzungen und Erfahrungsaustausch von Fachpersonal (Pflege!!) sind willkommen und werden gerne eingepflegt!

Evelin

Evelin (82 J., w.) war immer für alle da.
Für ihre Familie, die Kinder und Enkel, die in mittlerweile fünfter Generation ein sehr gut gehendes Restaurant führen und auf Evelins tatkräftige Unterstützung zählen. Morgens packt sie als erste bei den Backwaren an, weil die als Vorspeise gereichten Brote nach wie vor von Evelin gebacken werden. Wenn die Urenkel von der Schule kommen passt sie auf die kleinen auf, damit die Eltern sich dem Mittagsgeschäft widmen können. Nachmittags arbeitet sie im Café mit, Evelins Apfelkuchen – so viel Klischee muss sein – hat seine eigenen Fans. Ganz ohne Facebook.
Abends bringt sie die Urenkel ins Bett, die bestehen darauf, weil die Uroma so viel Zeit mitbringt. Da ist auch meistens noch die eine oder andere Zugabe mit drin, Evelin guckt da nicht auf die Uhr. Das hat sie schon bei ihren Kindern und Enkeln so gemacht, warum sollte es dann bei den Urenkeln anders sein.
Evelin wollte eigentlich studieren, Lehrerin wäre sie gerne geworden. Da hätte sie mit Kindern arbeiten können. Das ging aber nicht, das hatte der Vater verhindert. Das könne man ja immer noch machen, im Moment sei dafür kein Geld da. Und überhaupt, Frauen, Studium. Und dann war da ja auch Albert, eine sichere Bank und ein Fels in der Brandung. Eine richtig gute Partie und ihre erste große Liebe.
Evelin hat sich auch um ihren Albert gekümmert. Albert war immer ein Macher. Restaurant von den Eltern übernommen, Haus angebaut, Kinder in die Welt gesetzt, Restaurant ausgebaut, gewonnen, verloren, wieder aufgestanden, geleitet, geführt, motiviert. Zuletzt wurden die Lücken größer, die Gespräche fahriger, die Tagesabläufe wichen immer öfter von der Routine ab. Evelin gab ihrem Mann den Halt, den er ihr bisher immer gegeben hatte. Eine Weile blieb ihre Welt damit im Lot, aber es drohte alles immer mehr zu schwanken. Zuletzt musste Albert wegen einer Rauchvergiftung ins Krankenhaus. Er hatte Hunger und wollte sich eine Scheibe Brot auf der Herdplatte erwärmen. Es war noch in der Plastikfolie.
In der Geriatrie (Fachabteilung für den alternden Menschen) wirkte Albert sehr sortiert und es wurde die weitere Versorgung nach der Entlassung geplant. Albert bekam eine Zusage für einen Platz in der Seniorenresidenz. Weil es ihm so gut ginge wolle man aber doch nochmal ausprobieren, ob er nicht doch nochmal nach Hause könne. Nur für ein oder zwei Tage. Den Platz im Heim könne man ja immer noch annehmen. Die Kinder redeten ihrer Mutter gut zu, kein Problem Evi, wir stehen Dir bei.
Evelin wusste um die Probleme, die sie erwarten würden. Am Abend vor Alberts Entlassung zogen sich die Wolken immer dichter zusammen. Was wie ein Gewitter anfing bedrohte sie, machte sie einsam, klein, isoliert von der Welt um sie herum. Nein, ihre Kinder haben ja genug eigene Sorgen, die kann sie nicht damit belasten. Und dann die ständigen Schmerzen. Ihre Hausärztin hatte ihr ja etwas verschrieben, aber sie wurde trotzdem nachts von Schmerzen wach. Jeder Schritt wurde zu einer Qual, die Schmerztropfen brachten immer nur eine kurze Linderung. Wie sollte sie sich da auch noch um Albert kümmern können? Und die Kosten der Seniorenresidenz, die Hilflosigkeit, die unendliche Traurigkeit wenn Albert sie nicht mehr erkannte und fragte wer sie denn eigentlich sei und ob sie hier auch wohne und dann lagen da die Tabletten. Die hatte die Hausärztin ihr auch mal aufgeschrieben. Damit sie besser in den Schlaf finden kann, wenn sie Gedanken daran hindern. Ja, nach Schlaf war ihr jetzt. Nach langem Schlaf.
Evelin drückte die Tabletten aus dem Blister heraus, nahm die 30 Tabletten ein und schlief neben dem Abschiedsbrief ein.

Evelin

Verzeiht mir.
Ich kann und will so nicht mehr leben jeder Schritt ist eine Qual nicht erst seit heute
habt Dank für Alles
ein Pflegefall ist für Euch genug

Evelin kam schlafend zu mir und schlief 30 Stunden durch. Als sie wach wurde waren ihre Kinder bei ihr. Aus München und Kiel, Andreas kam extra aus Oxford.
Evelin bekam von uns ein Konsil vom Schmerztherapeuten der ihr ein Rundum-Wohlfühlantischmerzpaket strikte, die Kinder erzählten ihr, dass Albert sich bereits prächtig in der Seniorenresidenz eingelebt habe und das die Urenkel abends überhaupt nicht eingeschlafen seien und darauf warten, dass Evelin endlich wieder nach Hause kommt. Evelin war immer für ihre Familie da, das Oberhaupt, die Schaltzentrale.
Zu akzeptieren, dass man auch mal die Hilfe anderer in Anspruch nehmen darf gehört auch zum älter werden. Ich hoffe, ich denke daran, wenn ich älter werde.
Nach dem üblichen Prozedere (mit Einweisung in die Akutpsychiatrie) und Ausschluss einer akuten Suizidalität durch den Psychiater wurde Evelin bei „guter sozialer Einbindung“ entlassen. Nach Hause.
Alles Gute!

Delir, Demenz und Diskussionen auf der Intensiv

Katharina die Große wurde morgens in der Übergabe spontan auserkoren eine Intensivverlegung eines Beatmungspatienten zur Weaningklinik zu fahren. Vorgesehen war ein bodengebundener Intensivtransport, kalkulierte Fahrtzeit ca. 2-3 Stunden. Inklusive Rückfahrt wäre sie also den ganzen Tag unterwegs gewesen.
Da sie sich auf einen gemütlichen Tag im OP eingerichtet hatte und keine Stulle und nix dabei hatte, musste sie sich für das Mittagessen vor Ort etwas Geld bei einer Kollegin leihen. Gesagt, getan.
Am nächsten Tag (!) wollte ich mit einer 86jährigen und beginnend tüddeligen Patientin bei der morgendlichen Untersuchung ein bißchen Smalltalk halten. Zu meiner Frage nach ihrem Befinden kam ich gar nicht…
TO (tüddelige Oma): „Ich will hier weg!“
Ich: „Wo wollen Sie denn hin?“
TO: „Weg. Hauptsache nicht länger hier bleiben. Hier dreht sich alles nur ums Geld. Geld, Geld, Geld. Herr Doktor, hier gibt es Leute!! (holt Luft) Hier gibt es Leute, die haben noch nicht mal Geld um Mittags was zu essen!! Die müssen sich bei anderen was leihen! Schlimm is das.“

Wir konnten das Missverständnis klären. Ansatzweise.
Hier wurde mir mal wieder klar was für einen breiten Interpretationsraum unsere Gespräche lassen. Patienten und Angehörige nehmen manches von dem was wir so dahinsagen sehr ernst! Und das kann sehr ernste Konsequenzen haben, auch und gerade auf den Gesundungsprozess.
Ich kann mich noch an einen Kollegen Dr. Dingsbums erinnern, der mal einen längeren Briefwechsel mit dem Öffentlichkeitsbeauftragten eines großen, deutschen Automobilclubs hatte. Bei einem Einsatz mit dem gelben Hubschrauber gab es einen schwerverletzten Patienten – nennen wir ihn A – und einen Leichtverletzten – B. Offensichtlich war sich ein Feuerwehrmann nicht ganz über B’s Zustand und die Platzverhältnisse im Hubschrauber im klaren. Seine Frage an den Kollegen war nämlich warum sie denn A mitnehmen würden und nicht B. In einer für den Rettungsdienst typischen Form des Bewältigungshumors und für Außenstehende manchmal schwer zu verstehenden Art und Weise antwortete Dr. Dingsbums „Der is ja kein GroßerDeutscherAutomobilClub-Mitglied“.
Das wiederum hörte einer der Gaffer umstehenden Unbeteiligten und sah sich direkt genötigt hier mal eine Anzeige zu schreiben. Ups.
Also: pass auf kleiner Mund, was Du sprichst…