Politik und Propofol

Venlafaxin, Lamotrigin, Candesartan, Unacid. Diese Medikamente haben eigentlich nichts gemeinsam, außer dass es für sie alle schon mal einen Lieferengpass gab. Lieferengpass ist dabei ein Euphemismus, eine Schönfärberei, denn tatsächlich waren diese Medikamente über mehrere Wochen überhaupt nicht lieferbar.
Es gibt unter der Gelben Liste eine ständig aktualisierte Liste mit Medikamenten die aktuell schlecht oder gar nicht lieferbar sind.
Gründe dafür gibt es viele, manchmal brennt die einzige noch produzierende Firma das Herstellers ab, mal gibt es Kontaminationen und ganze Chargen werden zurückgerufen. Viele Engpässe sind das Resultat eines globalisierten Marktes der weitestgehend unreguliert eben den Gesetzen von Angebot und Nachfrage folgt.
Dabei sind Interessen und Belange von Patienten eher nachrangig. Vorrangig geht es um Effizienz, Kostenersparnis und einen möglichst maximalen Gewinn. Pharmakonzerne sind vor allem Unternehmen die in erster Linie ihre Aktionäre zufrieden stimmen sollen oder auch die dahinter stehenden absurd reichen Familien wie die Wirtz-Familie (2,5 Mrd. € geschätztes Vermögen, Grünenthal Pharma und andere) noch reicher machen sollen.
Falls möglich schmücken sie sich dabei gerne mit dem Image der Heilsbringer. Menschen zu heilen ist ja eine sehr ehrenrührige Sache, damit schmückt man sich gerne.
Wenn also die Produktion auf maximale Effizienz getrimmt wird – zum Beispiel indem man statt mehrerer, ausfallsicherer Standorte nur noch an einem einzigen Standort produzieren lässt – kann es eben auch zu Ausfällen kommen.
Manchmal aber – und das ist fast noch am schlimmsten – weiß man die Gründe gar nicht so genau. Das ist im Moment der Fall für Propofol. Propofol ist das wahrscheinlich  wichtigste Narkosemedikament. Es gibt kein Medikament was mehr mit einem Berufsbild verknüpft ist. Ein Anästhesist ohne Propofol, das ist wie ein Chirurg ohne Messer. Ein guter Anästhesist kann Narkose auch mit anderen Medikamenten machen, manchmal gibt es auch gute Gründe warum wir primär gar kein Propofol einsetzen. Zum Beispiel bei einer bekannten Allergie, zur eiligen Sectio bei einer Schwangeren oder auch beim schwer herzkranken Patienten bei dem die gefäßerweiternde (entspannende…) Wirkung des Propofols vermieden werden soll.
Wenn wir aber die Wahl haben, würden wir immer Propofol nehmen. Es ist uns sehr vertraut, kein Medikament spritzen wir häufiger. Es macht ein schönes Einschlafen, ist sicher steuerbar, hat nur wenige und dabei sehr gut beherrschbare Nebenwirkungen.
All dies macht Propofol zu dem Medikament in der Anästhesie.
Ja, wir können auch mit Alternativen umgehen und Narkose kann man auch relativ problemlos ohne Propofol machen. Die Alternativen haben aber teils erhebliche Nebenwirkungen die wir nur ungern in Kauf nehmen.
Kommt es zu einem längerfristigen Lieferengpass werden wir Alternativen auch bei Patienten wählen müssen, bei denen wir gar keine Alternativen wollen.
Midazolam als Alternative für die Langzeitsedierung auf Intensivstationen hätte dort massive Nachteile. Es hat eine viel, viel längere Halbwertszeit, es reichert sich auch in geringer Dosis in enormen Mengen im Körper an. Dieser Effekt ist noch vermehrt bei älteren Patienten – dem Großteil unseres Patientenkollektivs auf der Intensivstation. Ganz vereinfacht gesagt würden Patienten letztendlich deutlich länger auf Intensivstationen liegen, wir würden die Patienten schlechter wach bekommen, hätten mehr Langzeitbeatmete. Das ganze bei ohnehin schon knappen Intensivkapazitäten wäre zumindest suboptimal.
Für fast jedes Medikament gibt es Alternativen, die wir im Notfall auch nutzen werden müssen. Was bleibt uns auch sonst übrig?
Wir werden entweder mehr oder weniger zähneknirschend auf Medikamente wie Midazolam, Ketamin oder auch Thiopental (was übrigens schon seit über einem Jahr kaum lieferbar ist) zurückgreifen.
Gibt uns der Körper des Patienten vor, dann akzeptieren wir das und finden einen anderen Weg. Das ist unsere Aufgabe als Ärzte, dafür sind wir ausgebildet.
Es fällt schwer zu akzeptieren, dass wir Ärzte uns in unserer Therapiefreiheit auch den wirtschaftlichen Gesetzen eines globalisierten Marktes unterwerfen müssen.
Als das @twankenhaus darüber twitterte war die Empörung groß.
Da wird dann auf die raffgierigen Pharmaunternehmen geschimpft und dass @jensspahn endlich mal aktiv werden solle. Ein Einsatz für !!1!1! und Großbuchstaben. Das sind dann aber auch meist die gleichen, die schimpfen weil sie ja sowieso schon jeden Monat so hohe Beiträge an die Krankenversicherung zahlen.
Wir wollen alle möglichst billig einkaufen und möglichst viel Geld auf dem Konto haben. Darin unterscheiden wir uns nicht im geringsten von genau den Konzernen die wir anprangern. Pharmakonzerne existieren nicht aus Uneigennützigkeit, sie dienen nicht dem Humanismus sondern dem Kapitalismus.
Wenn wir mehr Sicherheit in der Versorgung, akzeptable Arbeitsbedingungen und eine allgemein bessere Versorgungsqualität im Gesundheitssektor wünschen, dann müssen wir dafür bezahlen. Es ist eine Frage der Prioritäten und im Moment und eigentlich seit mindestens 15-20 Jahren scheinen die Prioritäten eben woanders zu liegen. Wir haben das System alle gemeinsam kaputt gespart und lange durch erheblichen, persönlichen Einsatz, durch Überstunden und mit überdurchschnittlichem Engagement bis hin zum burn-out am Leben gehalten. Wir haben kompensiert und neutralisiert, sind von Feuer zu Feuer gerannt und haben versucht die kleinen und großen Brände zu löschen. Und all die aufreißenden Löcher, die wir über viele Jahre noch flicken konnten reißen nun immer weiter auf. Wir kompensieren nicht mehr, wir akzeptieren und resignieren. Längst schon sterben Menschen weil wir Intensivkapazitäten absagen müssen. Wir sagen „wir haben keinen Platz“ und meinen „wir haben Platz aber kein Personal“.
Und jetzt haben wir eben auch teilweise keine Medikamente mehr.
Jemand sagte mal heute wären die guten alten Zeiten, von denen wir in 20 Jahren sprechen werden. Ich möchte mir nicht vorstellen, was das konkrete bedeutet. Allmählich beginne ich aber zu verstehen, was das in Zukunft bedeuten könnte.

Nachtrag:
Wenn ich mal meine bescheidene Meinung als hier in Deutschland praktizierender Arzt äußern darf – es wäre schön, wenn die große Politik in Berlin und der kleine Mann am Kiosk sich mal langsam den wirklich wichtigen Themen zuwenden könnte.
Wenn man schon nicht aus eigentlich selbstverständlichen, humanistischen Gründen Geflüchtete willkommen heißen mag, dann vielleicht aus einer ganz egoistischen Motivation. Wir haben tausende offene Stellen im Gesundheitssektor und es wäre uns allen sehr damit geholfen, wenn wir Fachkräfte gewinnen. 
Ob es denen da Rechtsaußen passt oder nicht, aber diese Fachkräfte können und werden nicht nur aus Deutschland kommen. Ein wichtiger Anfang wäre deshalb schon mal damit gemacht, wenn wir als Land für Fachkräfte attraktiv werden. 
Wir können also selbst entscheiden ob wir unsere Energie in Gastfreundschaft oder in Hass und Hetze investieren. Ob ausländische Fachkräfte nach Deutschland kommen und hier bleiben wollen, hängt nämlich vor allem sehr davon ab, welches Bild wir nach außen vermitteln und im Alltag leben.
Es wird nicht ohne Folgen bleiben, wenn wir so arrogant und dumm bleiben, dass wir denken, dass alle hier in unser tolles Deutschland kommen wollen und nur wir mit dem goldenen Stempel entscheiden wer kommen und bleiben darf und wer nicht.
Das ist mitnichten so.
Wer sich beispielsweise mal mit syrischen Ärzten unterhält, wird sehr schnell merken, dass es neben Deutschland viele andere attraktive Länder gibt. Ein Kollege von mir hat Angst um seine Frau und seine Kinder. Er berichtet über fast tägliche rassistische und ausländerfeindliche Anfeindungen gegen seine Familie. In der Klinik wird er respektiert, privat erlebt er Ausgrenzung und Isolation.
Wir halten uns bereits für ganz großartige Menschen wenn wir Toleranz und Akzeptanz leben. Dabei brauchen wir nicht weniger als ein Umdenken um 180°.
Nicht „die“ brauchen uns, sondern wir brauchen „die“!
Propofol kann man ersetzen, dafür gibt es Alternativen.
Fehlende Fachkräfte kann man nicht ersetzen.