Aus Mohn kann man nicht nur Kuchen machen

Es ist jetzt ein paar Wochen her, dass ich als Notarzt zu einem Unfall in eine eher ländliche Gegend musste. Wir wurden vom bodengebundenen Notarzt nachgefordert zu einem Verkehrsunfall Roller gegen PKW. Es war noch einer von diesen relativ lauen Sommerabenden so dass man am RTW schon durch das noch geöffnete Fenster den bereits auf der Trage liegenden sich windenden Patienten schreiben hörte. Bei erster Inspektion eine offene Unterschekelfraktur beidseits, die waren wohl unter die Reifen gekommen.
Nach kurzer Begrüßung bat ich den HEMS er möge mir etwas Fentanyl aufziehen – auch um hier etwas Ruhe rein zu bekommen, eine normale Konversation war unter den Umständen kaum möglich. Als hätte ich den Beelzebub persönlich ausgepackt starrte mich die Besatzung des RTWs und der Notarzt an. FEN-TA-NYL??? Also das würde man hier nur sehr ungern sehen. Das wäre ja ein hochproblematisches Medikament und man würde hier ja doch andere Schmerzmittel bevorzugen… Dass ich bei meiner Antwort auf den sich seit mindestens 20 Minuten – wir wurden ja nachgefordert! –  krümmenden Patienten wies und sagte   „Ja, dann hätten Sie doch mal besser IRGENDeins ihrer bevorzugten Medikamente gegeben!“ brachte mir eine Beschwerde und eine Klarstellung gegenüber der Zentrale ein.
Der Notarzt hat es sich nicht nehmen lassen sich über uns bei der Filialleitung zu beschweren und holte auch nochmal ganz tief aus. Er hätte das ja auf dem Notarztkurs gelernt, dass das ein sehr gefährliches Medikament sei und dass dieses für die Schmerztherapie im Rettungsdienst völlig ungeeignet sei. Da frage ich mich allen Ernstes – wer erlaubt diesen Menschen Notärzte auszubilden? Und was empfehlen die dort auf diesem Kurs als Schmerzmittel der Wahl?
Was soll man bei einer offenen Unterschenkelfraktur als Schmerztherapie denn nehmen? Novaminsulfon und Co. verbieten sich von selbst, das ist inadäquat. Wir reden hier von Schmerzen, nicht von Wehwehchen. Piritramid? Befindet sich nicht auf dem Wagen. Bleibt noch Morphin.
Und dann soll ich eine Narkose mit Morphin einleiten? Dann werden 5 Ampulen à 10 mg Morphin  aufgezogen?
Wenn man keine Ahnung von einem Medikament hat lässt man besser die Finger davon. Einfache Regel. Ich mische auch keine Chemotherapien zusammen. Lehre bedeutet auch Verantwortung und ich halte es für verantwortungslos so auszubilden.
Aber wenn ich als Not(!)arzt den Piepser in die Hand nehme und mich bereit erkläre mit dem kleinen blinkenden Auto zum Notfallpatienten zu brausen dann muss ich doch einen Plan haben wie ich echte Schmerzen richtig lindern kann – die urälteste Berufung aller Mediziner!
Thomas Sydenham (lebte von 1624 – 1689) und gilt als „englischer Hippokrates“. Ein Arzt und Grundlagenforscher der unter anderm Erstbeschreiber der Chorea Minor ist schrieb:

„Ich kann nicht umhin, Gott für seine Güte zu danken, daß er der leidgeplagten Menschheit zur Linderung Opiate gegeben hat; kein anderes Mittel vermag mit einer gleichermaßen durchschlagenden Wirkung eine große Anzahl von Krankheiten erfolgreich zu behandeln oder sogar auszumerzen.“
Thomas Sydenham, 1624 – 1689

Was Thomas Sydenham hier so überschwänglich lobt nennt sich Opium, die Grundlage für unsere moderne Schmerztherapie. Opium ist Mohnsaft, gewonnen durch das Anritzen unreifer Samemkapseln des Schlafmohns.

Bereits 4000 vor (!) Christus wurde Schlafmohn zur Herstellung pharmazeutischer Produkte als Nutzpflanze eingesetzt. Es gilt als eine der ältesten Kulturpflanzen überhaupt.
Erst Jahrtausende später nämlich 1804 konnte Morphin (neben 37 anderen Alkaloiden) als eigene Substanz im Schlafmohnsaft isoliert werden.
Die Forschung machte große Fortschritte und dem natürlichen Opiat Morphin folgten die künstlich hergestellten Opioide.
Diese wuchsen nicht mehr in Pflanzen sondern in Reagenzgläsern. Dr. Paul Janssen war hier federführend. Sein Team erkannte das enorme Potenzial geringfügiger Modifikationen bekannter Wirkstoffe. Hierzu sei auch die überaus spannende Kurzbiografie von Dr. Paul Janssen empfohlen.
Dr. Paul Janssen gilt als der Thomas Edison der Medizin. Ein begnadeter, unermüdlich forschender Mediziner der in seiner Lebenszeit nicht nur etliche Male für den Nobelpreis nominiert wurde sondern auch hunderte Medikamente erfand.
Unter anderem Fentanyl (Durogesic), Piritramid (Dipidolor), Sufentanil (Sufenta) und Alfentanil (Rapifen). Das hat alles dieser eine Mann erfunden und das innerhalb kürzester Zeit.
Fentanyl, Sufentanil und Alfentanil sind allesamt künstliche Abkömmlinge des Opiums. Sie sind dem Opium ähnlich (-„id“) und wirken unterschiedlich stark.
Verglichen wird die analgetische Potenz – also die Wirkstärke des Schmerzmittels – mit Morphin. Morphin hat als Referenzsubstand die relative Potenz von 1.
Piritramid, gerne nach Operationen gegen Schmerzen eingesetzt hat zum Beispiel nur eine relative Potenz von 0,7. Tilidin hat sogar nur die relative Potenz von 0,1 (und wird in unserer Klinik auch aufgrund des erheblichen Missbrauchspotenzials gar nicht mehr verordnet).
Diamorphin – besser bekannt als Heroin – hat nur eine 2,5fache relative Potenz aber es berauscht in erheblichem Maß. Methadon – als Saft ein guter Ersatz zur Substitution von Heroinabhängigen – hat fast die gleiche realtive Potenz (2,0), aber es berauscht wesentlich weniger.

Und weil Junkies immer auf der Suche nach dem Rausch sind, dem neuen Kick, der einen Substanz – sprach sich irgendwann vor ein paar Jahren herum, dass man doch auch mal was anderes als Heroin versuchen könne. Andere waren auf der Suche nach Heroin und bekamen von ihrem Dealer alternativ  Fentanyl angeboten. Ein User beschreibt Fentanyl im Vergleich zu Heroin als „It’s like going from being slapped by a pillow to hit by a train“.
Wer damit anfing und warum man auf Fentanyl kam, dazu gibt es verschiedene Theorien. Fakt ist, dass Fentanyl den nordamerikanischen Drogenmarkt überschwemmt, Eltern, PilotenKünstler (Prince) und tausende andere getötet hat und über Großbritannien nach Europa und mittlerweile in Bayern angekommen ist.
Ein riesengroßes Problem was auf uns zurollt und in den USA bereits zum nationalen Notfall erklärt wurde.
Das – ist brandgefährlich.
Nicht die Schmerztherapie im Rettungsdienst.
Die Anwendung eines hochpotenten Analgetikums durch hochqualifiziertes Personal. Das ist etwas wovor man Respekt haben sollte, wofür wir ausgebildet wurden und zu deren Anwendung unserer Heilkünste wir gegenüber unseren Patienten verpflichtet sind. Hui, da war sie – die große moralische Keule.
Meine Erfahrung ist im übrigen, dass ein Patient mit einer solchen Schmerzquelle nach adäquater Gabe von Fentanyl immer noch genügend Atemantrieb hat. Eine Narkose und Atemwegssicherung ist in den seltensten Fällen wirklich nötig – muss aber natürlich vorgehalten werden.

In der Anästhesie setzen wir Fentanyl intravenös eigentlich nur während einer Operation ein um Patienten wirklich komplett schmerzfrei zu machen. Es wirkt etwa 120 mal stärker als Morphin weshalb nach der Gabe einer entsprechenden Menge Fentanyls eine Atemwegssicherung bereit stehen und der Patient beatmet werden muss.
Im Rahmen spezieller schmerztherapeutischer Programme erhalten Patienten Schmerzpflaster mit Fentanyl. Diese werden aufgeklebt und geben den Wirkstoff kontinuierlich über mehrere Tage über die Haut ab.
Irgendjemand fing dann mal damit an diese gebrauchten Pflaster aus dem Müll zu fischen, auszukochen und den Sud zu spritzen.
Als wäre das alles nicht schon furchtbar genug legen die Dealer noch einen drauf. Sie haben die relative Potenz für sich entdeckt. Wenn ein Wirkstoff 120 mal stärker wirkt brauche ich nur noch 1/120stel der Menge für die gleiche Wirkung. Kokain wird grammweise verkauft, Heroin ebenfalls.
Fentanyl wird Milligrammweise verkauft. Weil es aber immer noch ein bißchen extremer geht wird neuerdings Carfentanyl vermischt. Carfentanyl hat eine relative Potenz von 10.000! Es wird in der Humanmedizin nicht eingesetzt weil es nicht sinnvoll zu verdünnen ist. In der Tiermedizin wird es (als Wildnil) zur Betäubung von Großtieren wie Eisbären und Löwen eingesetzt.
Und dieses veterinärmedizinische Turboanalgetikum mixen findige Dealer jetzt dem Fentanyl bei. Ein einziges Milligram Carfentanyl reicht für hunderte bis tausende Einheiten die an Drogenabhängige weiterverkauft werden können.
In seiner Potenz schlummert aber auch die Gefahr. Carfentanyl ist so potent, dass bereits wenige Mikrogramm in der Luft ausreichen um eine entsprechende Wirkung zu entfalten.
Im Klartext – das Pulver ist so stark, dass bereits eine normale Umfeldkontamination von Gepäck oder ähnlichem hochgefährlich ist. Es soll schon Drogenfahnder gegeben haben die bereits von der Berührung lebensgefährlich erkrankten. Und Drogenhunde die sich im wahrsten Sinne des Wortes fast zu Tode geschnüffelt haben.
In Amerika wird Carfentanyl mittlerweile nicht mehr nur als Droge, sondern als Kampfstoff geführt. Das passt auch ganz gut. Bei der Befreiung der Geiseln des Überfalls auf das Moskauer Dubrowka-Theater 2002 wurden die Geiselnehmer wahrscheinlich mit einem Carfentanylgemisch betäubt. Genau weiß man es nicht.
Leider starben auch 130 Geiseln, 125 davon durch die möglicherweise unzureichende medizinische Versorgung. Die Geiseln waren durch das Carfentanylaerosol wahrscheinlich schlicht apnoeisch geworden, eine simple Maskenbeatmung hätte diese Leute vielleicht überleben lassen.
Oder Naloxon. Das gibt es mittlerweile auch als Spray. Wegen der Hunde. 

Ach ja, erwähnen sollte man noch Ohmefentanyl (von „Oh my god“-Fentanyl?). Es hat die 30.000 fache relative Potenz und gilt als das stärkste Opioid.
Nur dass keiner sagt ich hätte nichts gesagt.

Die berechtigte und unberechtigte Angst vor Atemdepression nach Opiatgabe

Ein Patient (28 J., m.) kommt mit Schulterluxation (habituell) und Notarzt in die Ambulanz des kleinen Krankenhaus am Rande des Universums und wird unfallchirurgisch vorgestellt. Der NA wurde zur Schmerztherapie hinzugerufen und entschied sich für 0,1mg Fentanyl. Fentanyl wird immer pur aufgezogen. Zumindest im Umkreis von 50km im Rettungsdienst, im OP, in der Anästhesie, überall. 1ml sind 0,1mg.
Der Patient hat also 0,1mg vom Zauberwasser bekommen und hat immer noch Pinne. Was würdet ihr machen?
(runterscrollen….)

Also ich hätte mich für nochmal 0,1mg Fentanyl entschieden, davon wird ein junger Mensch nicht atemdepressiv. Wenn ich sehe, dass der Notarzt 1 ml aus der Spritze gegeben hat (also 0,1mg) und noch 4 ml drin sind (also 0,4mg!)  kann ich ohne das Präparat zu kennen, davon ausgehen, dass das was kann.
Ich kenne die Wirkung von Fentanyl und auch die unerwünschten Nebenwirkungen. Wenn ich diese NICHT kenne, was mache ich dann? Eben, entweder ich lasse es und nehme was anderes oder ich frage jemanden, der sich damit auskennt. Oder ich taste mich ran.

Der aufnehmende Assistenzarzt entschied sich für die Risikovariante. Keine Ahnung mit forschem Aktionismus zu kombinieren ist meist keine gute Wahl.
Ganzer Mensch, ganze Ampulle -ZACK!- Rest der Spritze rein in den guten Mann.
So soll es geschehen, 0,5mg Fentanyl waren drin, die Schmerzen waren kurze Zeit später weg, das Bewusstsein des Patienten auch. Patient wurde blau (Notarzt war schon längst weg), der unfallchrirugische Kollege überfordert, die Ambulanzschwester löst den Rea-Alarm aus. Der Pat. hatte (noch) einen guten Puls, wurde problemlos und umgehend intubiert und ein wenig beatmet, alles nochmal gut gegangen.
Naloxon etc. war in der Akutsituation übrigens keine Option, wir sprechen immerhin über eine Reanimation! Als das Res-Team dazu kam war es hektisch und die Situation unklar, der eigentlich Grund für die Reanimationspflichtigkeit ergab sich erst nach ein paar Minuten.

Mann, mann, mann… und jetzt würde man ja wahrscheinlich zu recht sagen, dass Opiate eben nur einsetzen sollte, wer auch mit den Nebenwirkungen umgehen kann (und so ein wenig was von der Dosierung versteht…).  Aber das ist erst der zweite Patient, den ich gesehen habe, der mal wirklich unbeabsichtigt ateminsuffizient wurde nach Opiatgabe. Ich schimpfe immer mit unseren Internisten, die ihre blitzeblauen, hochspastischen, exazerbierten COPDler auf die Intensiv karren mit 2mg Morphin subcutan (SIC!). „Das macht ja so atemdepressiv!“

Am Ende ist dann wie so oft im Leben, wie man es macht, macht man es falsch.