14-jähriger stirbt nach Narkoseeinleitung

Wecker klingeln, entgegen ärztlichen Rat als erstes aufs Smartphone gucken, durch die Nachrichten scrollen… wach.

Manchmal gibt es diese Nachrichten die uns mit einem Blick in den Newsfeed sofort wach machen.
Donald Trump ist über Nacht Präsident der USA geworden.
Zack – besser als ein doppelter Espresso.
Sowas war das hier für mich:

„14-jähriger stirbt nach Narkoseeinleitung“
(unter anderem hier)

In feinstem Schulenglisch ploppt ein „WHATTHEFU**?!?“ in meinem Kopf auf. Ich bin nicht der Pressesprecher der Klinik, ich darf das sagen was ich denke.
Und das ist wahrscheinlich das gleiche was alle AnästhesistInnen, Anästhesiefachpflegekräfte, ATAs und Co auch denken – was ist da passiert?
Ein Zwischenfall, der Junge wird noch nach Bielefeld transportiert. Ein Klinikmitarbeiter meldet den Vorfall, der Junge kann nicht mehr gerettet werden und verstirbt, es wird eine Obduktion angeordnet. Jetzt wird bekannt, dass auch die Patientenakte beschlagnahmt wurde.
Wir werden das wahrscheinlich nie erfahren, was dort passiert ist, die Öffentlichkeit muss ja auch nicht alles wissen. Trotzdem bleibt ein schaler Beigeschmack.
War es wirklich schicksalhaft?
Ja, kann schon sein. Ein bisher unentdeckter Herzfehler, eine angeborene Stoffwechselstörung, eine fulminante anaphylaktische Reaktion auf ein Medikament wie zum Beispiel Propofol, eine Prädisposition für eine maligne Hyperthermie mit Entwicklung einer solchen und fatalem Ausgang.
Kann schon sein.
Kann aber auch anders gewesen sein. Und ich glaube das ist es was den meisten sofort durch den Kopf geht – ließ der Junge sich beatment? War es ein Sauerstoffmangel?
Das alles ist ja getrieben von der Frage – wäre der Tod vermeidbar gewesen? Hätte man diese Komplikation anders antizipieren können? Gab es in der Zwischenzeit vielleicht sogar schon andere Zwischenfälle bei denen man hellhörig hätte werden müssen?
Die anästhesiologische Führungsebene dort erscheint jedenfalls sehr kompetent. Zertifikate, Zusatzbezeichnungen, der Chef sogar habilitiert.
Ich bin sehr zuversichtlich, dass die zuständigen Mitarbeiterinnen vor Ort in der Klinik dort nicht nur Krisenmanagement betreiben sondern an einer Aufarbeitung der Vorfälle interessiert sind.
Der Tod des Jungen tut mir in aller erster Linie leid für die Familie. Die haben ihren Sohn verloren, vielleicht gab es einen Bruder, eine Schwester. Die Trauer und den Schmerz den Eltern empfinden die ihr Kind begraben müssen kann man nicht beschreiben. Ich glaube es gibt nichts grausameres auf dieser Welt als sein eigenes Kind zu Grabe tragen zu müssen.
Ich denke aber auch an das Anästhesieteam was an dem Tag für diesen Jungen zuständig war. Die werden sich genau das fragen: wie ist das passiert? Hätten wir das vermeiden können? Hätten wir etwas ahnen können? Gab es Anzeichen für die eingetretene Komplikation die wir übersehen haben?

Mich macht dieser Zwischenfall demütig.
Wir legen Menschen in einen künstlichen Schlaf, spritzen Medikamente bei denen die Atmung zum Stillstand kommt. Unsere Patienten vertrauen sich uns an, legen ihr Leben in unsere Hand.
Wir spritzen sie in einen Zustand den sie ohne unsere Hilfe nicht überleben können. Wir wachen über unsere Patienten, beschützen sie. Wir reflektieren ständig ob es Ihnen gut geht, ob wir noch irgendetwas verbessern können.
Das muss uns klar sein, bei jeder! einzelnen! Narkose.
Fehler passieren, überall.
Aus Müdigkeit weil ich drei Nachtdienste in Folge machen musste.
Aus Ablenkung weil ich auf dem Handy daddel.
Aus Überheblichkeit weil ich ja schon über 5000 Narkosen gemacht habe.
Aus vielen anderen Gründen, weil wir Menschen sind.

In Gedanken sind gerade ganz viele Menschen bei diesem Jungen, dieser Familie und diesem Anästhesieteam.
Ich wünsche Ihnen alles erdenklich Gute.

Regelrechter Verlauf.

Auf Erwins Nachttisch steht ein Foto wie er im karierten Kurzarmhemd in geselliger Runde dem Fotografen zuprostet. Ein Mensch mit Mimik, Charakter, Ausstrahlung und Seele.
Erwin ist so der Typ alter Herr der seine Flaschen getrennt und gerne auch einzeln zum Glascontainer bringt. Der Typ, dem seine Frau die Kleidung nicht rauslegen muss weil es sowieso immer auf ein kariertes Hemd mit Hosen aus dem blassbunten Graufarbenspektrum hinausläuft. Der Typ Mann der bis vor ein paar Jahren mit dem Kurzhaardackel (Rassehund!) spazieren gegangen ist und abends die 6m²-Rasenfläche des Gemeinschaftsgrundstücks vor dem 6-Parteien-Mehrfamilienhaus mit Wasser sprengt.
In den letzten Wochen kam es wiederholt vor, dass Erwin sich bei der Gartenarbeit setzen musste. Die Pumpe. Zwei Mal wurde er sogar bewusstlos. Jaja, sowas passiert sagt Erwin. Wahrscheinlich zu wenig getrunken. Der Hausarzt stellt eine schwere Herzfunktionsstörung fest, weitere Untersuchungen ergaben eine Auswurfleistung von nur noch 5%. Für sich genommen nicht mit dem Leben vereinbar, allerhöchstens durch ganz langsame Gewöhnung an so ein schlecht funktionierendes Herz.
Die Ursache ist eine Aortenklappeninsuffizienz, eine große Herzklappe die eigentlich wie ein Ventil Blut nur in eine Richtung durchlässt aber bei Erwin jetzt offen wie ein Scheunentor stand und das Blut, welches gerade aus dem Herzen in die Hauptschlagader gepumpt wurde sofort wieder ins Herz zurückströmen lässt. Effektiv wird dadurch nur noch sehr wenig Blut in den Körper gepumpt, bei Erwin noch 5%. Normal wären >55%. Bei Anstrengung kann das dazu führen, dass einem auch schon mal schwarz vor Augen wird.
Erwin entschied sich für die Operation. So wie fast alle traf er keine Vorsorge. Mit 75 Jahren stand er ja eigentlich in Saft und Kraft, da muss man sich um solche Dinge keine Gedanken machen.
Vorsorgevollmacht, Betreuungsverfügung, Patientenverfügung, Testament. Bei Erwin kam es nach der operativen Aortenklappenrekonstruktion (Wiederherstellung der großen Herzklappe) am 1. Tag nach der OP zu einer Nahtinsuffizienz mit Nachblutung. Erwins Herz wurde schnell schwach, Erwin wurde reanimiert, kam notfallmäßig in den OP, wurde mehrere Tage beatmet, die Nieren setzten aus, die Lunge verschlechterte sich, eine künstliche Dialyse wurde nötig, Erwin wurde nicht richtig wach, eine Beatmung wurde über einen Luftröhrenschnitt fortgesetzt, die Tage gingen ins Land, jeden Tag eine neue Komplikation, irgendwann Stagnation, Erwin blickte nun an die Decke.
Der Pat. solle zur heimatnahen Therapie verlegt werden war die offizielle Begründung. Seine Frau sei ja so schlecht mobil. Die Herzklinik wollte ihn nicht länger behalten. Klar, man benötigt neue Betten, neue Patienten, neue Operationen, Kapazitäten braucht das Land.
Für Erwin änderte sich die Decke von glatt verputzt auf gelöchert.
Der Neurologe hat ihn heute besucht, meinte Erwin würde völlig adäquat reagieren. Das meint, dass er die erwartbaren Reaktionen auf Aufforderung zeigt. Von uns, den behandelnden Ärzten der Intensivstation kann das keiner bestätigten, weil Erwin für unser Verständnis immer nur an die Decke schaut, ziemlich egal was man macht. Erwin und seine Frau sind von einem regelrechten Verlauf ausgegangen. Alles wird gut gehen haben die Ärzte gesagt. Dann sind sie bald wieder zuhause.
Erwin wird nie wieder seinen Rasen sprengen. Erwin wurde für einen Heimbeatmungsplatz angemeldet. Kein Rehapotential, das CCT (Röntgenschichtuntersuchung des Schädels) zeigt einen großen Schaden, am ehesten im Rahmen der Reanimation nach der zweiten OP. Jetzt wird nach einem Platz gesucht wo beatmete Patienten gepflegt werden. Bis zum Ende.

Annotation:
Ich kann nur immer wieder betonen wie wichtig es ist, für den Fall der Fälle vorzusorgen. Ein geplatztes Blutgerinnsel im Kopf, ein schwerer Autounfall, ein Darmverschluss mit kompliziertem, intensivmedizinischem Verlauf. Auch jungen Menschen kann sehr schnell, sehr schlimmes passieren und es gehört zu den Pflichten eines jeden Menschen sich mit solchen Eventualitäten auseinanderzusetzen. Dafür braucht es keine vorgefertigten Standardtexte. Im Gegenteil! Schreibt im Klartext auf, was ihr wünscht, was nicht. Was ihr bei anderen erlebt habt, was ihr für Euch wollt und was nicht und wer im Fall eines Falles Euch gesetzlich vertreten darf. Das kann und soll am bestene in eigenen Worten formuliert werden.
Es würde für uns so vieles vereinfachen.