Ich rette also bin ich.

Weaning IntensivtransportNicht-Mediziner äußern sich gerne bewundernd oder auch anerkennend über meine Arbeit und wünschen sich sie könnten das von ihrer Arbeit auch sagen. Für Außenstehende ist es ganz einfach – wer mit Blaulicht durch die Gegend rast um Menschen in Not zu helfen tut Gutes. Wer sich die Nächte um die Ohren schlägt um Menschen auf der Intensiv mit Hilfe von Medikamenten und Maschinen ein Überleben zu ermöglichen tut etwas sinnvolles. Wer den Tod eines Menschen verhindert und Familien die Möglichkeit gibt mit dem von ihnen geliebten Menschen weitere Zeit zu verbringen und nicht auf eine weitere Beerdigung gehen zu müssen tut per Definition etwas sinnvolles.
Was so selbstverständlich erscheint ist bei genauer Betrachtung etwas ganz anderes. Wenn man einzelne Patienten über Monate auf der Intensivstation begleitet, kathetert,  dialysiert, bronchoskopiert, tracheotomiert und unzählige Male in den OP fährt, Hochs und Tiefs miterlebt und mit den Angehörigen durchlebt und bespricht – und diese Patienten dann zwei Wochen später in der Reha versterben kommt man ins Nachdenken.
Ich fahre im Moment viele Intensivtransporte und begegne dort immer wieder Menschen die sehr unglücklich aussehen.
Erst letzte Woche habe ich mehrere Patienten zum Weaning gefahren. Das sind Patienten die lange auf einer Intensivstation behandelt wurden und dort über lange Zeit beatmet wurden. Die Atemmuskulatur verschwindet unter eine Beatmung innerhalb von Tagen und muss dann mühsam wieder antrainiert werden um ein selbständiges Atmen zu ermöglichen. Diesen Prozess der Entwöhnung von der Beatmung nennt man Weaning.
Alles gut und sinnvoll bei Patienten die vorher ein selbständiges Leben geführt haben und bei denen Aussicht auf Besserung besteht. Aber das wird immer seltener.
Erst letzte Woche fuhr ich einen Patienten der im Januar (!) diesen Jahres aufgrund einer Lungenentzündung bei schwerer Lungengerüsterkrankung (COPD GOLD IV D, Heimsauerstofftherapie) mal wieder beatmungspflichtig wurde. Im Rahmen der Lungenentzündung kam es zur Blutvergiftung, der 78-jährige Patient wurde mehrfach reanimiert, irgendwann tracheotomiert (Wechsel vom Beatmungsschlauch auf eine Beatmung per „Luftröhrenschnitt“) und dann nicht richtig wach. Nach zweieinhalb Monaten auf der Intensivstation wurde der komatöse Patient in ein Beatmungsheim abgeschoben. Dort wurde er jetzt im Lauf von Monaten wacher und nach zehn Monaten wird er jetzt zum Weaning gefahren. Dieser Mensch liegt seit fast einem Jahr beatmet im Bett und kann sich nicht mal an der Nase kratzen wenn diese juckt. Was er von der Umwelt mitbekommt lässt sich nicht sagen, aber es ist doch so: entweder er bekommt das ganze Elend und die tagelange Einsamkeit mit was ein furchtbarer Zustand ist. Oder er bekommt nichts mit und wabert gedanklich einem Karpfen gleich durch die Tage, Jahre und Gezeiten. Ist dieser Zustand dann besser? Elend erleben oder nichts mitbekommen? Dann könnte man doch auch tot sein, oder?
Früher habe ich mich gefragt ob ein solches Leben noch Sinn macht – heute weiß ich es. Es macht keinen Sinn. Für mich. Das ist meine Meinung! Es muss nicht Deine sein. Das darf und soll jeder für sich entscheiden.
Mir fehlt aber zunehmend der Sinn in der Arbeit wenn ich mich mit Maximaltherapie um Patienten kümmern soll die für sich keine Maximaltherapie wollen und diese sogar zu Lebzeiten mehrfach abgelehnt haben. Und die dann trotzdem eine Maximaltherapie bekommen weil – man kann ja nie wissen! Vielleicht ist es gar nicht seine/ihre Patientenverfügung! Vielleicht ist das Lungencarcinom ja gar nicht final metastasiert sondern nur ein Krampf durch Unterzuckerung? Vielleicht vielleicht vielleicht. Und erst wenn alle Katheter im Menschen drin sind und die Beatmungsmaschine erbarmungslos ihre Luft in die kaputte Lunge pumpt wird nach ein paar Tagen entschieden, dass wir uns jetzt – ja, ist vielleicht doch besser – zurückziehen.
Wir erleben undankbare, gequälte und oft leidende Patienten und Angehörige und investieren Milliarden für die letzten Lebenswochen am Ende eines 80, 85 oder (aktuell auf Bett 33.1) 103 Jahre zählenden Lebens.

Und dann ist da noch die Palliativmedizin.
Der Gegenentwurf zur sinnlosen Ressourcenverschwendung in der Intensivmedizin. hier hat die klassische Medizin kapituliert, hat den Sieg der Krankheit anerkannt und – zieht sich zurück!
Der Mediziner kann nicht mehr gewinnen, da verlässt er doch lieber gleich das Feld. Auf in den nächsten Kampf, neuen Gegner suchen, neuen Menschen helfen.
Dabei benötigen gerade und am allermeisten genau diese Patienten Hilfe! Palliativmedizin ist grundsätzlich realtiv übersichtlich. Es gibt weitaus kompliziertere Felder in der Medizin die man beackern kann. Eigentlich gibt es nur drei Medikamente (Morphin, Cortison und Benzodiazepine) und die größte Herausforderung liegt in der Abrechnung mit den zahlungsunwilligen Krankenkassen – aber es ist so sinnvoll!
Hier erlebe ich Patienten die für jede Zuwendung in Form von Worten, Zeit oder luftnotnehmenden Medikamenten unglaublich dankbar sind. Hier geht es nicht ums heilen, aber trotzdem um Medizin. Es geht um das feine Gespür für den Moment, um das Wissen wann ein Wort zuviel ist und wann Gespräche gut tun. Es geht viel um Zeit und wenig um medizinische Fakten.
Es geht um Dankbarkeit und sinnvolle Arbeit. Um das gute Gefühl am Ende eines langen Tages, um ein zufriedenenes Lächeln beim Einschlafen nach einem unruhigen Nachtdienst.
Ich komme ins Nachdenken.

Der ewige Gewinner.

Für den Mediziner ist der Tod die ultimative Niederlage. Es ist der größte Feind und er gilt bekämpft, mit allen Mitteln. Bis zum Schluss. Und sei es auch die drölfte Chemotherapie, dem Patienten wird immer erzählt da geht! noch! was!
Warum eigentlich?
Schon wenn wir geboren werden ist klar, dass dieses kleine Herz auch irgendwann wieder aufhören wird zu schlagen. Warum muss man dann so krampfhaft alles tun um das unvermeidliche zu vermeiden? Warum vor allem scheuen sich Mediziner so sehr auch mal klar zu sagen: hier ist ein Leben gelebt worden und jetzt geht es zu Ende. Warum?
Die Antwort ist relativ einfach und für den Patienten, noch mehr aber für die Angehörige von schmerzhafter Konsequenz. Der Arzt wird darin ausgebildet zu helfen. Zu heilen. Zu retten. Den Tod als finale Niederlage zu akzeptieren wiederstrebt allem, was ein Mediziner im Studium und in der Ausbildung lernt und anderen lehrt. Und deshalb meidet der gemeine Arzt den Tod so konsequent es irgend möglich ist. Es wird nicht über das Ableben gesprochen (im Hospiz? Zuhause im Bett mit palliativer Pflege? Auf der Intensivstation? Beatmet?) sondern lieber nach weiteren lebensverlängernden Maßnahmen gesucht (Chemo? Bestrahlung? Heimbeatmung? Dialyse?). Den Patienten wird oft in blumigen Worten (ich war oft genug dabei!) von all den Möglichkeiten erzählt. Damit verbundene Einschränkungen werden wenn überhaupt sehr selten und mehr als Fußnote, kleinlaut und im Flüsterton und auch nur auf explizites Nachfragen erwähnt. Und Nachfragen kommen glücklicherweise sehr selten.
Nein, eine Chemotherapie ist kein Ponyhof. Und eine Dialysetherapie heißt mindestens dreimal die Woche für ca. 8 Stunden im Krankenhaus sitzen, dazu unzählige Katheterwechsel, tausend neue Medikamente, tausend mal tausend Nebenwirkungen und irgendwann das unter Medizinern berühmte „Dialysehirn“.
Die Vermeidung des Todes hört aber nicht mit dem Tod auf. Manche Patienten erdreisten sich tatsächlich zu sterben, tun dies dann auch noch im Krankenhaus und werden dann mit Laken überm Gesicht (warum eigentlich?) über den Lastenaufzug schnell in den Keller gefahren und von dort aus in einem abgedunkelten Fahrzeug abtransportiert. Ist der Tod so etwas grausames? Oder ist es nicht viel grausamer, wenn man sich ständig darum bemüht ihn zu verdrängen?

Vor ein paar Jahren lernte ich (damals noch Student) einen Patienten, Herr Postel, 54 J.  kennen. Seineszeichens im Amateurbereich erfolgreicher Fahrrad-Rennfahrer, immer viel an der frischen Luft, nie geraucht, jetzt mit metastasiertem Bronchialkarzinom*. Traurig, tragisch, ohne Frage. Der Familie wurden die üblichen Gespräche angeboten (ja, Chemo, auf jeden Fall… gute Prognose…müssen alles versuchen… noch keine Lebermetastasen…).
Für Mediziner ein klarer – weil hoffnungsloser – Fall. Für den Patienten und die Familie – aufgrund mangelhafter Aufklärung – eine ernste, aber zu überstehende Erkrankung. Nach außen sah man ja wenig von dem Tumor.
Herr Postel starb inmitten eines seiner unzähligen Chemotherapiezyklen – für einen Tumorpatienten typisch- sehr plötzlich, er hatte eine massive Lungenembolie (Verlegung der Hauptblutbahnen der Lunge). Nicht alle Tumorpatienten sterben einen langsamen Tod. Der Tumor macht tausend Veränderungen im Körper, eine mögliche Folge sind Gefäßgerinnsel mit plöztlichen Schlaganfällen oder eben Lungenembolien.
Die Familie fiel aus allen Wolken. Der wäre doch noch so gesund gewesen, sie haben doch noch im Garten gesessen, von Tod wäre überhaupt nie die Rede gewesen.
Die behandelnden Mediziner wiederum waren perplex. Für sie war es unausgesprochen (!) klar, dass diese Erkrankung zum Tode führen würde. Nur war eben nicht klar, wann.

Das Problem für die Familie war, dass es ein Unternehmen gab, welches von Herrn Postel als Geschäftsführer geleitet wurde. Ausstehende Großaufträge waren an seine Person gebunden, Verträge und prokuristische Rechte waren alleine für ihn festgeschrieben. Es gab keine Vorsorge, weil keiner damit rechnete, dass man an sowas auch mal sterben könne. Die Firma wurde letztlich unter den beiden Söhnen aufgeteilt, der eine wollte, der andere wollte nicht, das Erbe wurde ausgezahlt, die Firma verkauft, letztlich insolvent, die Mitarbeiter arbeitslos.
Klar, hätte man auch unabhängig von der Erkrankung viel eher vorsorgen müssen aber  hier trifft die behandelnden Mediziner nach meinem Erachten eine Teilschuld, weil wieder mal das unvermeidliche gemieden wurde.

Und so bleibt am Ende als ewiger Gewinner immer der Tod. Ich für meinen Teil sehe den Tod als Teil des Berufs, Teil der Krankheit. Ich freue mich, wenn ich Menschen durch Gespräche oder auch Medikamente die Angst vor dem Tod nehmen kann. Statt Angst vor einer erneuten Niederlage gegen den ewigen Gewinner zu haben konzentriere ich mich darauf den Angehörigen Mut zu machen ihren geliebten Menschen gehen zu lassen und dann den letzten Weg gemeinsam zu gehen. Oft erlebt man dabei wunderbar friedliche Momente. Solche Gespräche dauern manchmal eine Stunde, manchmal auch länger und sind in jedem Fall aufwendiger als eine Dialyseanlage ins Zimmer zu fahren und anzuschließen aber sie sind wichtig und gut und richtig.
Es gibt ein Umdenken in der jungen Medizinergeneration, ich glaube wir sind da auf einem guten Weg.

*metastasiert: der Tumor hat im ganzen Körper gestreut, auch als Tochtergeschwulste bezeichnet (warum eigentlich Töchter?), per definition wird in fast allen Fällen nur noch die Symptome (Schmerzen etc.) des Tumors, nicht mehr die Ursache bekämpft weil dieser überall ist

*Bronchialkarzinom: unter den fiesen und bösartigen Krebsarten eine besonders heimtückische weil man ihn meist erst bemerkt, wenn es zu spät ist. Macht gerne Tochtergeschwulste im Gehirn.