Evelin

Evelin (82 J., w.) war immer für alle da.
Für ihre Familie, die Kinder und Enkel, die in mittlerweile fünfter Generation ein sehr gut gehendes Restaurant führen und auf Evelins tatkräftige Unterstützung zählen. Morgens packt sie als erste bei den Backwaren an, weil die als Vorspeise gereichten Brote nach wie vor von Evelin gebacken werden. Wenn die Urenkel von der Schule kommen passt sie auf die kleinen auf, damit die Eltern sich dem Mittagsgeschäft widmen können. Nachmittags arbeitet sie im Café mit, Evelins Apfelkuchen – so viel Klischee muss sein – hat seine eigenen Fans. Ganz ohne Facebook.
Abends bringt sie die Urenkel ins Bett, die bestehen darauf, weil die Uroma so viel Zeit mitbringt. Da ist auch meistens noch die eine oder andere Zugabe mit drin, Evelin guckt da nicht auf die Uhr. Das hat sie schon bei ihren Kindern und Enkeln so gemacht, warum sollte es dann bei den Urenkeln anders sein.
Evelin wollte eigentlich studieren, Lehrerin wäre sie gerne geworden. Da hätte sie mit Kindern arbeiten können. Das ging aber nicht, das hatte der Vater verhindert. Das könne man ja immer noch machen, im Moment sei dafür kein Geld da. Und überhaupt, Frauen, Studium. Und dann war da ja auch Albert, eine sichere Bank und ein Fels in der Brandung. Eine richtig gute Partie und ihre erste große Liebe.
Evelin hat sich auch um ihren Albert gekümmert. Albert war immer ein Macher. Restaurant von den Eltern übernommen, Haus angebaut, Kinder in die Welt gesetzt, Restaurant ausgebaut, gewonnen, verloren, wieder aufgestanden, geleitet, geführt, motiviert. Zuletzt wurden die Lücken größer, die Gespräche fahriger, die Tagesabläufe wichen immer öfter von der Routine ab. Evelin gab ihrem Mann den Halt, den er ihr bisher immer gegeben hatte. Eine Weile blieb ihre Welt damit im Lot, aber es drohte alles immer mehr zu schwanken. Zuletzt musste Albert wegen einer Rauchvergiftung ins Krankenhaus. Er hatte Hunger und wollte sich eine Scheibe Brot auf der Herdplatte erwärmen. Es war noch in der Plastikfolie.
In der Geriatrie (Fachabteilung für den alternden Menschen) wirkte Albert sehr sortiert und es wurde die weitere Versorgung nach der Entlassung geplant. Albert bekam eine Zusage für einen Platz in der Seniorenresidenz. Weil es ihm so gut ginge wolle man aber doch nochmal ausprobieren, ob er nicht doch nochmal nach Hause könne. Nur für ein oder zwei Tage. Den Platz im Heim könne man ja immer noch annehmen. Die Kinder redeten ihrer Mutter gut zu, kein Problem Evi, wir stehen Dir bei.
Evelin wusste um die Probleme, die sie erwarten würden. Am Abend vor Alberts Entlassung zogen sich die Wolken immer dichter zusammen. Was wie ein Gewitter anfing bedrohte sie, machte sie einsam, klein, isoliert von der Welt um sie herum. Nein, ihre Kinder haben ja genug eigene Sorgen, die kann sie nicht damit belasten. Und dann die ständigen Schmerzen. Ihre Hausärztin hatte ihr ja etwas verschrieben, aber sie wurde trotzdem nachts von Schmerzen wach. Jeder Schritt wurde zu einer Qual, die Schmerztropfen brachten immer nur eine kurze Linderung. Wie sollte sie sich da auch noch um Albert kümmern können? Und die Kosten der Seniorenresidenz, die Hilflosigkeit, die unendliche Traurigkeit wenn Albert sie nicht mehr erkannte und fragte wer sie denn eigentlich sei und ob sie hier auch wohne und dann lagen da die Tabletten. Die hatte die Hausärztin ihr auch mal aufgeschrieben. Damit sie besser in den Schlaf finden kann, wenn sie Gedanken daran hindern. Ja, nach Schlaf war ihr jetzt. Nach langem Schlaf.
Evelin drückte die Tabletten aus dem Blister heraus, nahm die 30 Tabletten ein und schlief neben dem Abschiedsbrief ein.

Evelin

Verzeiht mir.
Ich kann und will so nicht mehr leben jeder Schritt ist eine Qual nicht erst seit heute
habt Dank für Alles
ein Pflegefall ist für Euch genug

Evelin kam schlafend zu mir und schlief 30 Stunden durch. Als sie wach wurde waren ihre Kinder bei ihr. Aus München und Kiel, Andreas kam extra aus Oxford.
Evelin bekam von uns ein Konsil vom Schmerztherapeuten der ihr ein Rundum-Wohlfühlantischmerzpaket strikte, die Kinder erzählten ihr, dass Albert sich bereits prächtig in der Seniorenresidenz eingelebt habe und das die Urenkel abends überhaupt nicht eingeschlafen seien und darauf warten, dass Evelin endlich wieder nach Hause kommt. Evelin war immer für ihre Familie da, das Oberhaupt, die Schaltzentrale.
Zu akzeptieren, dass man auch mal die Hilfe anderer in Anspruch nehmen darf gehört auch zum älter werden. Ich hoffe, ich denke daran, wenn ich älter werde.
Nach dem üblichen Prozedere (mit Einweisung in die Akutpsychiatrie) und Ausschluss einer akuten Suizidalität durch den Psychiater wurde Evelin bei „guter sozialer Einbindung“ entlassen. Nach Hause.
Alles Gute!

Delir, Demenz und Diskussionen auf der Intensiv

Katharina die Große wurde morgens in der Übergabe spontan auserkoren eine Intensivverlegung eines Beatmungspatienten zur Weaningklinik zu fahren. Vorgesehen war ein bodengebundener Intensivtransport, kalkulierte Fahrtzeit ca. 2-3 Stunden. Inklusive Rückfahrt wäre sie also den ganzen Tag unterwegs gewesen.
Da sie sich auf einen gemütlichen Tag im OP eingerichtet hatte und keine Stulle und nix dabei hatte, musste sie sich für das Mittagessen vor Ort etwas Geld bei einer Kollegin leihen. Gesagt, getan.
Am nächsten Tag (!) wollte ich mit einer 86jährigen und beginnend tüddeligen Patientin bei der morgendlichen Untersuchung ein bißchen Smalltalk halten. Zu meiner Frage nach ihrem Befinden kam ich gar nicht…
TO (tüddelige Oma): „Ich will hier weg!“
Ich: „Wo wollen Sie denn hin?“
TO: „Weg. Hauptsache nicht länger hier bleiben. Hier dreht sich alles nur ums Geld. Geld, Geld, Geld. Herr Doktor, hier gibt es Leute!! (holt Luft) Hier gibt es Leute, die haben noch nicht mal Geld um Mittags was zu essen!! Die müssen sich bei anderen was leihen! Schlimm is das.“

Wir konnten das Missverständnis klären. Ansatzweise.
Hier wurde mir mal wieder klar was für einen breiten Interpretationsraum unsere Gespräche lassen. Patienten und Angehörige nehmen manches von dem was wir so dahinsagen sehr ernst! Und das kann sehr ernste Konsequenzen haben, auch und gerade auf den Gesundungsprozess.
Ich kann mich noch an einen Kollegen Dr. Dingsbums erinnern, der mal einen längeren Briefwechsel mit dem Öffentlichkeitsbeauftragten eines großen, deutschen Automobilclubs hatte. Bei einem Einsatz mit dem gelben Hubschrauber gab es einen schwerverletzten Patienten – nennen wir ihn A – und einen Leichtverletzten – B. Offensichtlich war sich ein Feuerwehrmann nicht ganz über B’s Zustand und die Platzverhältnisse im Hubschrauber im klaren. Seine Frage an den Kollegen war nämlich warum sie denn A mitnehmen würden und nicht B. In einer für den Rettungsdienst typischen Form des Bewältigungshumors und für Außenstehende manchmal schwer zu verstehenden Art und Weise antwortete Dr. Dingsbums „Der is ja kein GroßerDeutscherAutomobilClub-Mitglied“.
Das wiederum hörte einer der Gaffer umstehenden Unbeteiligten und sah sich direkt genötigt hier mal eine Anzeige zu schreiben. Ups.
Also: pass auf kleiner Mund, was Du sprichst…