Von Traumatourismus und Intensiv-Erlebnisreisen

Die Suche nach einem Intensivbett fängt meistens schon draußen an, in der Präklinik, im Rettungsdienst. Erfüllt ein Patient eine oder mehrere Bedingungen für eine Aufnahme auf die Intensivstation (Lebensgefahr z.B. durch absehbare Beatmungspflichtigkeit, Kreislaufschwäche mit Notwendigkeit einer Kreislaufunterstützung usw.) wird die Leitstelle kontaktiert und gefragt welche Klinik in der Umgebung ein freies Intensivbett hat. Die Leitstelle weißt dann die nächste Klinik mit einem freien Intensivbett zu. Wir fahren jetzt schon regelhaft nicht mehr die nächste Klinik sondern in der Regel deutlich weiter entfernte Kliniken an. Überflüßig zu erwähnen, dass jede Verzögerung einer adäquaten Intensivtherapie mit einer konkreten Gefahr für den erkrankten Patienten verbunden ist. 

Ein Beispiel:
Herr Müller erleidet einen Herzinfarkt. Die nächstgelegene Klinik wäre in 10 Minuten erreichbar, diese hat einen Katheterplatz und auch eine Intensivstation, aber kein freies Bett mehr. Also wird Herr Müller 50 Minuten in die deutlich weiter entfernte Klinik gefahren und dort behandelt. In der Klinik gelingt die Wiedereröffnung des verstopften Herzkranzgefäßs. Aufgrund der verspäteten Behandlung sind aber bereits größere Teile des Herzmuskels abgestorben. Trotz initial erfolgreicher Therapie zeigt sich in den nächsten Tagen, dass eine zu große Fläche des Herzmuskels durch den zu spät behandelten Herzinfarkt abgestorben ist. Der Patient zeigt Zeichen einer schweren Herzinsuffizienz, kann aber mit kreislaufunterstützenden Medikamenten auf der Intensivstation eingestellt werden und nach 10 Tagen auf der Intensivstation und weiteren zwei Wochen auf der Normalstation entlassen werden. In den nächsten Monaten kommt es wiederholt zu kardialen Dekompensationen also einer akuten Herzschwäche mit Ansammlung von Flüssigkeit in den Beinen und in der Lunge. Die Abstände zwischen den Krankenhausaufenthalten werden kürzer, die Zeit die der Patient zu Hause verbringt auch. Aufgrund erneuter Komplikationen verstirbt der Patient etwa ein Jahr nach dem ersten Herzinfarkt im kardiogenen Schock. 

Das ist ein exemplarischer, aber typischer Verlauf, wenn man einen Herzinfarkt nicht sofort und so schnell wie möglich behandelt. Die initiale Verzögerung kann auf lange Sicht zwischen Lebensmonaten oder Lebensjahren entscheiden. Durch eine schnellere Therapie hätte der Patient eventuell auch nur einen kleineren Schaden am Herzmuskel erlitten und wäre statt 10 Tagen so wie die meisten unserer Herzinfarktpatienten nur eine Nacht auf der Intensivstation zur Überwachung geblieben. 

Das lässt sich so auch auf Schlaganfälle, Schwerverletzte („Traumatourismus“) und andere Erkrankungen übertragen. Die Verspätung einer Therapie bedeutet massive Konsequenzen für den Patienten und ist eben nicht unmittelbar erkennbar. 

Die Patienten sterben in der Regel nicht auf dem Weg zu der weiter entfernten Klinik und auch nicht kurz danach, sondern erst Tage, Wochen oder Monate später. Niemand bringt dann den (zu frühen) Tod mit der verspäteten Therapie in Verbindung. 

Was mache ich also als Intensivmediziner wenn meine Station „voll“ ist und ein weiterer Patient angekündigt wird? 

Eine Option wäre es die neu intensivpflichtigen Patienten nicht anzunehmen. Klingt so einfach, bedeutet praktisch aber unter Umständen, dass diese Patienten durch die verzögerte Therapie oder den Transport Schaden nehmen – wie oben beschrieben. 

Alternativ kann man versuchen eigene Intensivpatienten auf die Intensivstation einer anderen Klinik zu verlegen. 

Man muss aber erstmal eine andere Klinik finden, die einem einen stationären (= bereits versorgten) Patienten abnimmt. Da kann man ganz locker mal mehrere Stunden Telefonate investieren. Eine Klinik die im Leitstellensystem auf „grün“ steht, muss nicht zwingend einen Patienten aufnehmen der aus einer anderen Klinik kommt. 

Die Verlegung ist sowieso nur selten eine echte Option. Der Patient muss stabil genug für einen unter Umständen längeren (Intensiv)-Transport sein. Der potentielle Schaden durch den Transport sollte nicht größer sein als die potentielle Gefahr durch die Verlegung auf die Normalstation. Außerdem kann man beispielsweise einen neurochirurgischen Patienten, welcher vor ein paar Tagen am Kopf operiert wurde, nicht ohne weiteres in eine Klinik verlegen, die gar keine Neurochirurgie hat. 

Es gibt noch viele weitere Probleme weshalb es oft trotz aller Widerstände sinnvoller ist ein Bett dadurch zu schaffen, einen eigenen Patienten auf die Normalstation zu verlegen.

Macht man das unter dem Druck zunehmend kranker Patienten weiter, steigt sowohl die Behandlungsintensität des einzelnen Intensivpatienten (geringerer Anteil moderat Erkrankter, höherer Anteil Schwerkranker Patienten) als auch der Workload einer jeden Pflegekraft. Während eine Intensivpflegekraft in Ausnahmefällen auch mal einen sehr kranken und zwei mäßig kranke Intensivpatienten versorgen kann, ist auch die beste Pflegekraft bei drei maximal kranken Intensivpatienten überfordert. 

Ich hoffe es ist klar geworden – man kann also drei Patienten oder drei Patienten betreuen.  Und eine Intensivstation kann mit 20 überwiegend gelben und orangenen Patienten oder mit 20 roten Patienten voll sein. 

Wie es einer Intensivstation geht hängt also nicht nur von der Anzahl der belegten Betten ab. Vor allem die Anzahl der Pflegekräfte und der Zustand der Patienten ist entscheidend. Covid-Patienten sind besonders pflegeaufwändig. Die Patienten zeichnen sich durch eine erhebliche Kreislaufinstabilität und komplexe Beatmung aus. Außerdem müssen diese Patienten während der kritischsten Phasen auf den Bauch gedreht werden – eine komplexe Aufgabe die mit Vor- und Nachbereitung für eine Pflegekraft zwei Stunden Arbeit bedeuten kann – für einen Patienten. 

Es kommt also auf die Patienten, auf die vorhandenen Pflegekräfte (und Ärzte) auf den Zustrom und den Abstrom und viele weitere Faktoren an ob eine Intensivstation noch einen Patienten versorgen kann. 

Aktuell (Stand Mitte Dezember 2020) gibt es in Deutschland ca. 2000 Kliniken und noch ca. 6000 freie Intensivbetten. Das bedeutet rein rechnerisch in etwa 3 freie Intensivbetten pro Klinik. Jeder in der Präklinik tätige Notarzt oder Notfallsanitäter weiß um den Unsinn solcher Zahlen. Was auch immer der Grund für die fehlerhaften Angaben im DIVI-Intensivregister sind – sie stimmen einfach nicht mit der Realität überein. Es muss da ein massives Defizit in der Datenerfassung oder in den Angaben der meldenden Kliniken geben. 

Wir fahren mittlerweile regelhaft dutzende Kilometer bis zum nächsten freien Intensivbett, oft gibt es von 16 Kliniken im Landkreis nur noch eine Klinik mit freiem Bett. Man möge mir gerne widersprechen, aber die Realität scheint eine andere zu sein als es Schlagzeilen wie „20% freie Intensivbetten“ vorgaukeln. Das kann ich und niemand der im Krankenhaus oder im Rettungsdienst arbeitet Ernst nehmen. 

 
Selbst wenn im DIVI-Register die Ampel auf „grün“ steht, sind die meisten Intensivstationen bereits seit Wochen auf dunkelrot. Und das obwohl es vielleicht noch ein freies Bett gibt. 

4 Gedanken zu “Von Traumatourismus und Intensiv-Erlebnisreisen

  1. Leider sind es auch bei uns deutlich weniger (oft gar keine) Betten im Landkreis. Und wir bekommen als Maximalversorger in allen Bereichen regelhaft Anfragen aus anderen Kreisen, die inzwischen alle abgelehnt werden müssen. Habe mir überlegt, ob die freien Intensivbetten in so kleinen Klinien sind, die 98% der Patienten nicht behandeln können, weil es an Ausstattung und Erfahrung fehlt.
    Wir sehen es z.B. bei uns regelmäßig, dass ECMO-Anfragen nur an unseren Beatmungsgeräten und mit Lagerung innerhalb von Tagen deutlich besser werden und in 4 von 5 Fällen gar keine ECMO mehr benötigen.

    1. Das deckt sich mit unserer Erfahrung. Das Lungenversagen unter COVID 19 ist hochkomplex, das überfordert viele (gerade kleinere) Kliniken, die darin nicht geübt sind.
      Viele Grüße!

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